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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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allozentrisch› erfunden. Die Welt der Liebe wird entweder egozentrisch oder allozentrisch erlebt; die gewöhnliche Welt kennt aber nur Egoismus und Altruismus, ein im Vergleich damit zanksüchtig-vernünftiges Brüderpaar. Egozentrisch sein heißt fühlen, als trüge man im Mittelpunkt seiner Person den Mittelpunkt der Welt. Allozentrisch heißt, überhaupt keinen Mittelpunkt mehr haben. Restlos an der Welt teilnehmen und nichts für sich zurücklegen. Im höchsten Grad, einfach aufhören zu sein. Ich könnte auch Hereinwendung der Welt und Hinauswendung des Ich sagen. Es sind die Ekstasen der Selbstsucht und Selbstlosigkeit. Und obwohl die Ekstase scheinbar ein Auswuchs des gesunden Lebens ist, darf man scheinbar auch sagen, daß die moralischen Begriffe des gesunden Lebens eine Verkümmerung ursprünglich ekstatischer sind.»
    Agathe dachte: «Mondnacht ... Zwei Meilen ...» Auch vieles andere schwebte ihr durch den Kopf. Was ihr Ulrich erzählte, war eine Fassung mehr von alle dem; sie hatte nicht den Eindruck, daß sie etwas verliere, wenn sie nicht ganz scharf aufpasse, obwohl sie gerne zuhörte. Dann dachte sie daran, daß Lindner behaupte, man müsse für irgendetwas leben und dürfe nicht an sich denken, und sie fragte sich, ob das auch «Allozentrik» wäre. In einer Aufgabe aufzugehen, wie er es verlangte? Sie bezweifelte es. Fromme Menschen haben ihre Lippen begeistert auf die Wunden von Aussätzigen gedrückt: eine abscheuliche Vorstellung! eine «lebensfremde Übertreibung», wie Lindner gerne sagte! Aber was er schon für das Gottgefällige hielt, ein Spital zu errichten, das ließ sie kalt. So geschah es, daß sie ihren Bruder nun am Ärmel zupfte und mit den Worten: «Da ist inzwischen unser Mann eingetroffen!» unterbrach. Sie hatten sich nämlich, teils im Scherz, teils durch Gewöhnung, einen besonders unangenehmen Mann ausgewählt, den sie für ihre Gedankenversuche benutzten, und das war ein Bettler, der täglich für einige Zeit an ihrem Gartengitter sein Geschäft betrieb. Er behandelte den Steinsockel als Bank, die für ihn bereitstand, er breitete jeden Tag zuerst ein durchfettetes Papier mit Speiseresten neben sich aus, an denen er sich gemächlich sättigte, ehe er seine Geschäftsmiene aufsetzte und den Rest wieder einsteckte; er war ein untersetzter Mensch mit kräftigem, eisengrauem Haar, hatte das fahle, tückische Gesicht eines Trinkers und war schon einigemal von großer Roheit in der Behauptung seines Platzes gewesen, als andere Bettler arglos in seine Nähe kamen: Die Geschwister haßten diesen Mitgenießer, der ihr Eigentum — und verfeinert das ihnen Eigentümliche, ihre Einsamkeit – verletzte, mit einem urwüchsigen Besitzinstinkt, über den sie lachen mußten, weil er ihnen gänzlich unstatthaft erschien; und gerade darum verwandten sie auch den häßlichen, bösartigen Gast bei den kühnsten und zweifelhaftesten Beschwörungen der Nächstenliebe.
    Kaum hatten sie ihn ins Auge gefaßt, sagte Ulrich lächelnd: «Ich wiederhole: Wenn du dich bloß, wie man es nennt, in seine Lage versetzt oder irgendeine ungenaue soziale Mitverantwortung für ihn spürst, ja selbst wenn er dir nur als malerisch zerlumptes Bild erscheint, so sind auch schon darin einige Promille des echten ‹Sich in einen anderen versetzens› enthalten. Nun mußt du es hundertprozentig versuchen!»
    Agathe schüttelte lachend den Kopf.
    «Stell dir vor, du wärest mit diesem Menschen in allem so einverstanden, wie du es mit dir selbst bist!» schlug Ulrich vor.
    Agathe verwahrte sich: «Ich war nie mit mir einverstanden!»
    «Aber du wirst es dann sein» sagte Ulrich. Er faßte ihre Hand. Agathe ließ es geschehen und sah den Mann an. Sie wurde eigentümlich ernst, und nach einer Weile erklärte sie: «Er ist mir fremder als der Tod.»
    Ulrich schloß seine Hand vollständiger um die ihre und forderte noch einmal: «Versuch es nur!»
    Nach einer Weile sagte Agathe: «Es ist mir, als hinge ich an dieser Figur; ich selbst, und nicht bloß meine Neugierde!» Ihr Gesicht hatte durch die Anspannung der Aufmerksamkeit und deren Einschränkung auf einen einzigen Gegenstand einen schlafwandlerisch-unwillkürlichen Ausdruck bekommen.
    Ulrich half nach: «Es ist ähnlich wie in einem Traum; rauh-süß, fremd-selbst begegnet man sich in der Gestalt eines anderen?»
    Agathe wehrte mit einem Lächeln ab. «Nein, so bezaubert sinnlich wie in solchen Träumen ist es wohl nicht» sagte sie.
    Ulrichs Augen ruhten auf ihrem

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