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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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mich? Si tu tuus et ego ero tuus », was sich etwa so übersetzen ließe: werde du nur Lindner, und ich werde bei dir sein! Es war aber nicht sowohl der Inhalt dieser Rede, der den ehrgeizigen Studenten bestürzte, denn er mochte ihn wenigstens zum Teil schon gelesen oder gehört und danach vergessen haben, als vielmehr das sinnliche Erklingen; denn dieses kam so unabhängig und überraschend von außen und war von einer solchen sofort überzeugenden Fülle und Festigkeit und hatte einen so anderen Klang als den trockenen des zähen Fleißes, auf den die späte Stunde abgestimmt war, daß davon jeder Versuch, die Erscheinung auf eine Übermüdung und Überreizung des Innern zurückzuführen, zum voraus entwurzelt wurde. Daß dieser Ausweg so nahe lag, und doch versperrt war, steigerte natürlich die Verwirrung; und als auch noch hinzukam, daß sich mit der Verwirrung der Zustand in Lindners Kopf und Herzen immer herrlicher erhob und bald durch den ganzen Körper zu fließen begann, war das zuviel. Er packte seinen Kopf, schüttelte ihn zwischen den Fäusten, sprang von seinem Stuhl auf, stieß drei «Nein!» hervor und sagte beinahe schreiend das erstbeste Gebet her, das ihm einfiel, worauf endlich der Zauber verschwand, und der tödlich erschrockene zukünftige Lehramtskandidat ins Bett flüchtete.
    Bald danach legte er die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab und bezog die Universität. Er fühlte nicht die innere Berufung zum geistlichen Stand in sich – die er übrigens, törichten Fragen Agathens zu antworten, während seines ganzen Lebens niemals empfand – und war zu jener Zeit nicht einmal ganz und ohne Anfechtung gläubig, denn auch ihn suchten die Zweifel heim, die keinem werdenden Verstand erspart bleiben. Aber der tödliche Schreck über die religiösen Kräfte, die er in sich berge, ging ihm sein Leben lang nicht mehr verloren. Je länger es her war, desto weniger glaubte er natürlich, daß wirklich Gott zu ihm gesprochen habe, und begann darum die Phantasie als eine zügellose Macht zu fürchten, die leicht zu geistiger Umnachtung führen kann. Auch sein Pessimismus, dem der Mensch überhaupt als bedrohtes Wesen erschien, gewann an Tiefe, und so war sein Beschluß, Pädagoge zu werden, einesteils wohl der Beginn einer sozusagen posthumen Erziehung der Schulkameraden, die ihn gequält hatten, andernteils aber auch der einer Erziehung des bösen Geistes oder irregulären Gottes, der möglicherweise noch in der Höhle seiner Brust hauste. Aber war es ihm somit unklar, bis zu welchem Grade er gläubig sei, so wurde ihm doch rasch klar, daß er ein Gegner der Ungläubigen sei, und er erlernte es, mit Überzeugung zu denken, daß er überzeugt sei und daß man überzeugt zu sein habe. Er lernte an der Universität auch umso eher die Schwächen des der Freiheit überlassenen Geistes erkennen, als ihm nur in bescheidenem Maße bekannt war, wie sehr den schöpferischen Kräften die Bedingung der Freiheit angeboren ist.
    Es ist schwer, von diesen Schwächen das Maßgebliche in wenigen Worten zu sagen. Man könnte es zum Beispiel darin sehen, daß die großen Gedankengebäude der selbständigen philosophischen Welterklärung, deren letzte zwischen den Mitten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden sind, von den Veränderungen des Lebens, vornehmlich aber von den Ergebnissen des Denkens und der Erfahrung selbst, unterhöhlt worden sind; ohne daß die Fülle der neuen, von den Wissenschaften fast mit jedem Tag ans Licht gebrachten Erkenntnisse zu einer neuen, festen, wenn auch abwartenden, menschlichen Gesinnung geführt hätte, ja auch ohne daß sich der Wille dazu ernst und öffentlich genug regte, so daß der Reichtum der Kenntnisse fast ebenso bedrückend wie beglückend geworden ist. Man kann aber auch ganz allgemein davon ausgehen, daß sich ein außerordentliches Gedeihen von Besitz und Bildung bis zu einem schleichenden Notstand gesteigert hatte, der nicht gar lange nach diesem Tag, da Lindner, zu seiner Erholung von dem anstrengenderen Teile seiner Lebenserinnerungen, über die Irrtümer der Welt nachdachte, von dem ersten Vernichtungsschlag unterbrochen werden sollte. Denn angenommen, daß jemand 1871, in dem Jahre der Geburt Deutschlands, auf die Welt gekommen sei, so hätte er schon mit einigen dreißig Jahren gewahren können, daß sich während seines Daseins die Länge der Eisenbahnen in Europa verdreifacht und auf der ganzen Erde mehr als viermal vergrößert habe, der

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