Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
Universität, einer Verbindung beigetreten, in deren Kreise, wie der Bart das Milchgesicht, bereits die Einflüsse des politischen Kampfes die harmlosen Jünglingsgespräche verdrängten; und als er so in die höheren Semester gekommen war, hatte sich an ihm schon gebieterisch die für jede Art von Gesinnung gültige Denkwürdigkeit geltend gemacht, daß die beste Stütze des Glaubens der Unglaube ist, da er, an anderen bemerkt und bekämpft, dem Gläubigen immer Gelegenheit gibt, sich eifrig zu fühlen.
    Von der Stunde an, da sich Lindner entschlossen gesagt hatte, daß auch Religion vornehmlich eine Einrichtung für Menschen sei, und nicht für Heilige, hatte sich Friede über ihn gebreitet. Zwischen den Wünschen, Kind oder Diener Gottes zu sein, war für ihn die Wahl gefallen. In dem ungeheuren Palast, darin er dienen wollte, gab es zwar einen innersten Raum, wo die Wunder aufbewahrt wurden und ruhten, und jeder dachte bei Gelegenheit daran, aber in diesem Heiligtum hielt sich keiner seiner Diener dauernd auf, sondern sie lebten alle nur davon, ja es wurde ängstlich vor der Zudringlichkeit Unberufener geschützt, mit der man nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht hat. Das sagte Lindner ungemein zu. Er schied zwischen Überhebung und Erhebung. Der Vorzimmerbetrieb, in seinen würdigen Formen und voll seiner hundertfach abgestuften Tätigkeiten und Angestellten, erfüllte ihn mit Bewunderung und Ehrgeiz; und die Außenarbeit, der er sich nun selbst unterzog, die Einflußnahme auf das moralische, politische und erzieherische Vereinswesen und die Durchdringung der Wissenschaft mit religiösen Grundsätzen, enthielt Aufgaben, für die er nicht ein, sondern tausend Leben hätte verbrauchen können, schenkten ihm dafür aber auch jene dauernde Bewegung bei innerer Unveränderlichkeit, die das Glück der seligen Geister ist: wenigstens meinte er das, in zufriedenen Stunden, vielleicht verwechselte er es aber mit dem Glück der politischen Geister. Und so trat er von da an in Vereine ein, schrieb Broschüren, hielt Vorträge, besuchte Versammlungen, knüpfte Beziehungen an, und ehe er die Universität verlassen hatte, war aus dem Rekruten der gläubigen Bewegung ein junger Mann geworden, der in der Offiziersliste evident gehalten wurde und einflußreiche Gönner besaß.
    Eine Persönlichkeit mit so breiter Grundlage und so geläuterter Höhe hatte es also wahrhaftig nicht nötig, sich von der vorlauten Kritik einer jungen Frau einschüchtern zu lassen, und als Lindner zur Gegenwart zurückkehrte, zog er die Uhr und stellte fest, daß Agathe noch immer nicht da sei, obwohl es fast schon an der Zeit war, daß Peter zurückkehren konnte. Trotzdem schlug er noch einmal das Klavier auf, und wenn er sich auch nicht der Unberechenbarkeit des Gesanges auslieferte, so ließ er doch sein Auge wiederholend über die Worte des Lieds wandern und begleitete sie mit leisem Flüstern. Dabei wurde er zum erstenmal gewahr, daß er sie falsch betonte, viel zu gefühlvoll, und nicht im Einklang mit der bei allem Liebreiz strengen Musik. Er sah einen Jesusknaben vor sich, der «irgendwie von Murillo» war, das heißt, auf eine sehr unbestimmte Art außer den schwarzen Kirschenaugen auch die malerischen Lumpen der älteren Bettlerknaben dieses Meisters besaß, so daß er mit dem Gottessohn und Erlöser gerade nur das rührend Vermenschlichte gemein hatte, dieses aber offenbar recht übertrieben und eigentlich geschmacklos. Es machte auf ihn einen unangenehmen Eindruck und flocht nun wieder Agathe in seine Gedanken ein, denn er entsann sich, sie hätte einmal ausgerufen, es wäre wirklich nichts so merkwürdig, wie daß der Geschmack, der die gotischen Dome und Passionen hervorgebracht habe, durch einen Geschmack abgelöst worden sei, dem heute Papierblumen, Perlenstickereien, gezackte Deckchen und eine süßliche Sprache gefielen, so daß der Glaube geschmacklos geworden wäre und die Gabe, das Unerfaßliche duften und schmecken zu machen, fast nur noch unter ungläubigen oder zweifelhaften Menschen bewahrt würde! Lindner sagte sich, daß Agathe «eine ästhetische Natur» sei, und das bedeutete etwas, das an den Ernst der Volkswirtschaft und der Moral nicht heranreicht, in einzelnen Fällen aber sehr anregend sein kann, und zu ihnen gehörte auch dieser. Denn Lindner hatte die Erfindung der Papierblumen bisher schön und sinnig gefunden, entschied sich aber plötzlich, einen Strauß von ihnen, der auf dem Tisch stand, dort zu

Weitere Kostenlose Bücher