Gesammelte Werke
zwang, bittere Abneigung gegen das zu äußern, was er selbst fast schon wünschte. Nun geschah es aber noch dazu, daß Agathe dieses Widerstreben am meisten ausnützte, um in ihrer verletzenden Art anzudeuten, sie glaube der Wahrheit seiner Überzeugung nicht. Er mochte die Moral vorkehren, die Kirche davorstellen, alle die Sätze aussprechen, die ihm ein Leben lang so geläufig waren, sie lächelte bei ihrer Antwort, und dieses Lächeln erinnerte ihn an das Frau Lindners in den späteren Jahren der Ehe, hatte aber davor die beunruhigende Kraft des Neuen und Geheimnisvollen voraus. «Es ist das Lächeln der Mona Lisa!» rief Lindner innerlich aus. «Spöttisch in frommem Gesicht!» und er war von dieser bedeutenden vermeintlichen Entdeckung so bestürzt und geschmeichelt, daß er im Augenblick gegen die Anmaßung, ihn nach der Sicherheit seiner Gottesgewißheit auszufragen, die sich diesem Lächeln anzuschließen pflegte, weniger Abweisung aufbrachte als sonst. Diese Ungläubige wollte nicht die ausgesendete Belehrung, sie wollte die Hand in die Quelle stecken; und vielleicht war ihm gerade das auferlegt, wirklich einmal wieder den Stein darüber zu öffnen, um ihr ein wenig Einblick zu gewähren: wer wollte ihn davor bewahren, daß es nicht so sei, so unangenehm, ja beängstigend dieser Gedanke auch für ihn selbst war! Und plötzlich trat Lindner, obwohl er sich allein in dem Zimmer befand, fest auf den Boden und sagte laut: «Sie sollen nicht denken, daß ich Sie nicht verstehe! Ach, glauben Sie nicht, daß die Unterwerfung, die Sie an mir bemerken, aus einem von Beginn an unterworfenen Wesen kommt!»
Die Geschichte, wie Lindner der geworden, der er war, war freilich beiweitem alltäglicher, als er glaubte. Sie begann damit, daß er auch ein anderer hätte werden können; denn er erinnerte sich noch genau an die Vorliebe, die er als Knabe für die Geometrie besessen hatte, deren schöne, klug angelegte Beweise sich am Ende mit einem leisen Schnappen um die Wahrheit schlossen und ihm ein Vergnügen bereiteten, als hätte er einen Riesen in einer Mausefalle gefangen. Es sprach nichts dafür, daß er besonders religiös angelegt gewesen wäre; und er war auch heute noch der Anschauung, daß man einen Glauben «erwerben» müsse, und nicht als Wiegengeschenk empfangen. Was ihn im Religionsunterricht damals zum vorzüglichen Schüler machte, war die gleiche Freude am Wissen und Besserwissen, die er auch den anderen Unterrichtsgegenständen entgegenbrachte. Allerdings hatte sein Inneres doch wohl die Ausdrucksweise der religiösen Überlieferung schon angenommen, und es wehrte sich bloß sein früh entwickelter Bürgersinn noch dagegen, was in der einzigen ungewöhnlichen Stunde, die sein Leben enthielt, einmal unerwartet zum Ausdruck kam. Es geschah zur Zeit der Vorbereitung auf die Reifeprüfung; er hatte schon durch Wochen übermäßig gearbeitet und saß abends lernend in seiner Stube, als sich auf einmal eine unbegreifliche Veränderung mit ihm vollzog. Sein Körper schien gegen die Welt zu so leicht zu werden wie zarte Papierasche, und eine unsägliche Freude erfüllte ihn, als wäre im dunklen Gewölbe der Brust eine Kerze entzündet worden und sendete ihren sanften Glanz bis in alle Glieder; und ehe er sich noch ob solcher Einbildung zur Rede stellen konnte, umlagerte dieses Licht auch sein Haupt mit einem strahlenden Zustand. Er war sehr erschrocken davor; aber sein Kopf sandte trotzdem Licht aus. Eine wundervolle geistige Klarheit überflutete nun alle seine Sinne, und die Welt spiegelte sich so weithin gesehen darin, wie es kein natürliches Auge erfassen kann. Er blickte auf und sah nichts als sein halberleuchtetes Zimmer; das war also keine Vision, aber der Aufschwung hielt an, mochte es auch in Widerspruch dazu stehn. Er tröstete sich damit, daß er anscheinend irgendwie nur «als geistiger Mensch» das erlebe, während «der körperliche» doch nüchtern und deutlich auf seinem Stuhl säße und ganz den gewohnten Raum einnähme; und so verharrte er eine Weile und hatte sich schon halb mit seinem bedenklichen Zustand abgefunden, da man sich auch an das Ungewöhnliche rasch gewöhnt, solange nur Hoffnung besteht, es werde sich schon noch als eine Geburt, und sei es auch eine Ausgeburt, der Ordnung herausstellen. Aber da geschah etwas Neues, denn er hörte mit einemmal eine Stimme, die gemäßigt, als hätte sie schon länger gesprochen, aber ganz deutlich zu ihm die Worte sagte: «Lindner, wo suchst du
Weitere Kostenlose Bücher