Gesammelte Werke
entfernen, und versteckte ihn einstweilen hinter seinem Rücken.
Es war beinahe unwillkürlich geschehn, und er war ein wenig bestürzt ob dieser Handlung; stand aber dabei unter dem Eindruck, er wüßte über die von Agathe beobachtete «Merkwürdigkeit», bei der sie es hatte bewenden lassen, wohl eine Erklärung abzugeben, die sie nicht von ihm erwartete. Ein Apostelwort fiel ihm ein: «Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle!» Und mit gerunzelter Stirn zu Boden blickend, bedachte er, daß nun schon seit vielen Jahren alles, was er tue, in Beziehung zur ewigen Liebe stehe. Er gehörte einer wunderbaren Liebesgemeinschaft an – und gerade das unterschied ihn von einem gewöhnlichen Intellektuellen – worin nichts geschah, dem sich nicht, und mochte es auch noch so irdisch bedingt und getan sein, eine allegorische Beziehung zum Ewigen hätte geben lassen, ja dem diese Beziehung nicht als tiefste Bedeutung eingewohnt hätte, mochte das Bewußtsein davon auch nicht immer blank geputzt sein. Es besteht aber ein mächtiger Unterschied zwischen der Liebe, die man als Überzeugung besitzt, und der Liebe, die einen besitzt; ein Unterschied an Frische, mochte er sagen, wenn auch gewiß der zwischen geläutertem Wissen und trüber Turbulenz gleichfalls zu Recht bestand. Lindner zweifelte nicht daran, daß die geläuterte Überzeugung höher zu stellen sei; aber je älter sie ist, umsomehr läutert sie sich, das heißt, sie befreit sich von den Unregelmäßigkeiten des Gefühls, das sie erzeugt hat; und allmählich bleibt von diesen Leidenschaften nicht einmal mehr die Überzeugung übrig, sondern nur noch die Bereitschaft, sich jederzeit, wenn man sie braucht, ihrer erinnern und bedienen zu können. Und das mag erklären, warum die Werke des Gefühls abdorren, wenn sie nicht aus unmittelbarer Liebeserfahrung noch einmal erfrischt werden.
Mit solchen beinahe ketzerischen Erwägungen war Lindner beschäftigt, als plötzlich die Glocke schrillte.
Er zuckte mit den Achseln, schloß das Klavier wieder zu und entschuldigte sich bei sich selbst mit den Worten: «Das Leben braucht nicht nur Beter, sondern auch Arbeiter!»
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76
Die Wirklichkeit und die Ekstase
Agathe hatte die Aufzeichnungen ihres Bruders nicht zu Ende gelesen, als sie zum zweitenmal seine Schritte auf dem kiesbestreuten Weg unter den Fenstern vernahm, und diesmal so wirklich, daß es jede Täuschung ausschloß. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit, die sich darbieten werde, wieder in sein Versteck einzudringen, ohne daß er es wisse; denn so fremd ihrem Wesen diese Art zu überlegen auch war, wollte sie doch sie kennenlernen und verstehen. Auch war ein wenig Rache dabei; und sie wollte Heimliches mit Heimlichem vergelten; darum mochte sie nicht überrascht werden. So ordnete sie hastig die Blätter, legte sie zurück und verwischte jede Spur, die ihre Mitwisserschaft hätte verraten können. Ein Blick nach der Uhr sagte ihr außerdem, daß sie längst das Haus hätte verlassen sollen und anderswo wahrscheinlich schon gereizt erwartet wurde, wovon nun freilich wieder Ulrich nichts wissen durfte. Dieses doppelte Maß, das sie anwandte, machte sie plötzlich lächeln. Sie wußte, daß ihr eigener Mangel an Offenheit der Treue nicht wirklich Abbruch tat; und daß er überdies viel schlimmer war als der Ulrichs. Diese natürliche Genugtuung ließ sie merklich versöhnt von ihrer Entdeckung scheiden.
Als ihr Bruder wieder sein Arbeitszimmer betrat, fand er sie darin nicht mehr vor, wunderte sich aber auch nicht darüber. Er hatte endlich zurückgefunden, nachdem ihm die Personen und Verhältnisse, von denen die Rede gewesen war, so lebhaft den Kopf erfüllt hatten, daß er nach Stumms Abfahrt noch eine Weile im Garten umhergewandert war. Ein rasch getrunkenes Glas Wein kann nach langer Entbehrung eine ähnliche, bloß angeheiterte Lebendigkeit bewirken, hinter deren buntem Szenenwechsel man finster und unberührt verharrt; und so war es ihm denn auch nicht einmal in den Sinn gekommen, daß die Personen, an deren Schicksal er scheinbar wieder so lebhaft Anteil nahm, nicht gar weit von ihm wohnten und alsbald zu erreichen gewesen wären. Die wirkliche Beziehung zu ihnen war gelähmt geblieben wie ein durchschnittener Muskel.
Immerhin machten einige Erinnerungen davon eine Ausnahme und hatten Gedanken erweckt, zu denen es Brücken des Gefühls auch
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