Gesammelte Werke
verschiedenen Zeiten sterben werden. Er verfolgte mit Aug und Ohr diesen fremden Körper Agathe. Aber da geriet er mit einemmal wieder ganz tief hinein und war am Boden des Erlebnisses, aus dem Agathe ihn aufgescheucht hatte.
Er vermochte es nicht klar festzustellen, aber in dieser flimmernden Helle über den Steinen, worin sich alles verwandelte, Glück in Trauer und auch Trauer in Glück, gewann der peinliche Augenblick unvermittelt die heimliche Wollust des Hermaphroditen, welcher sich, in zwei selbständige Wesen getrennt, wiederfindet, deren Geheimnis niemand ahnt, der sie berührt. Wie herrlich ist es doch – dachte Agathes Bruder –, daß sie anders ist als ich, daß sie Dinge tun kann, die ich nicht errate, und die doch durch unsere geheimnisvolle Sympathie auch mir gehören. (Das ist eigentlich ein allgemein menschliches Verhältnis, gar kein sexuelles.) Es fielen ihm Träume ein, deren er sich sonst nie erinnerte, die ihn aber doch oft beschäftigt haben mußten. Er war manchmal im Traum der Schwester einer Geliebten begegnet, obgleich diese gar keine Schwester besaß; und diese fremd-vertraute Person leuchtete alles Glück des Besitzes und alles Glück des Verlangens aus. Oder hörte eine weiche Stimme, die sprach, oder sah nur das Flattern eines Rocks, der ganz bestimmt einer Fremden gehörte, aber ganz bestimmt war diese Fremde seine Geliebte. Als ob eine wesenlose, eine ganz freie Zuneigung mit den Menschen nur spielte. Mit einem Schlag erschrak Ulrich und glaubte in großer Helligkeit zu sehen, daß gerade dies das Geheimnis der Liebe sei, daß man nicht eins ist. (Das gehört zu den Prinzipien der Profanliebe! Also eigentlich schon Spiel wider sie selbst.)
«Wie wundervoll ist es, Agathe,» sagte Ulrich «daß du Dinge tun kannst, die ich nicht errate.»
«Ja,» antwortete sie «die ganze Welt ist voll von solchen Dingen. Als ich über diese Hochebene ging, fühlte ich, daß ich jetzt nach allen Seiten gehen könnte.»
«Warum bist du aber zu mir gekommen?»
Agathe schwieg.
«Es ist so schön, anders zu sein, als man geboren wurde» fuhr Ulrich fort. «Ich habe mich aber eben davor gefürchtet!» – Er erzählte ihr die Träume, an die er sich erinnert hatte, und sie kannte sie auch.
«Warum fürchtest du dich aber?» fragte Agathe.
«Weil mir einfiel, wenn es der Sinn dieser Träume ist – und es könnte wohl sein, daß sie die letzte Erinnerung daran bedeuten –, daß unsere Begierde nicht verlangt, ein Mensch aus zweien zu werden, sondern im Gegenteil, unsrem Gefängnis, unsrer Einheit zu entrinnen, zwei zu werden in einer Vereinigung, aber lieber noch zwölf, tausend, unzählbar Viele, wie im Traum uns zu entschlüpfen, das Leben hundertgrädig gebraut zu trinken, uns entführt zu werden, oder wie immer, denn ich vermag es nicht gut auszudrücken, dann enthält ja die Welt soviel Wollust wie Fremdheit, ist keine Opiumwolke, sondern enthält ebensoviel Zärtlichkeit wie Aktivität, ist eher ein Blutrausch, ein Orgasmus der Schlacht, und der einzige Fehler, den wir begehen könnten, wäre, daß wir die Wollust der (wollüstige Berührung der) Fremdheit verlernt hätten und uns einbilden, wunder was zu tun, wenn wir den Orkan der Liebe in dünne Bächlein teilen, die zwischen zwei Menschen hin und her fließen –––––––»
Er war aufgesprungen.
«Wie müßte man dann aber sein?» fragte Agathe nachdenklich und einfach. – Es schmerzte ihn doch, daß sie seinen halb geliebten und halb verfluchten Einfall sogleich sich aneignen konnte. — «Man müßte schenken können,» fuhr sie fort «ohne wegzunehmen. So sein, daß Liebe nicht weniger wird, wenn man sie teilt. Das ist dann auch möglich. Nicht Liebe wie einen Schatz behandeln,» – lachte sie – «wie das doch schon in der Sprache liegt!»
Ulrich nahm kopfgroße Steine und schleuderte sie von der Höhe ins Meer hinaus, das winzig klein aufspritzte; er hatte lange keine Muskelbewegung mehr gemacht.
«Aber?» sagte Agathe. «Ist, was du sagst, nicht einfach das, was man nicht selten liest, das große in Zügen von der Lust der Welt Trinken —? Tausendfach sein wollen, weil einmal nicht genügt?» Sie parodierte es etwas, weil sie plötzlich wußte, daß sie es nicht liebte.
«Nein!» schrie Ulrich zurück. «Nie ist es das, was die andern sagen!» Er schleuderte den großen Stein, den er in der Hand hielt, so zornig zur Erde, daß der lockere Kalk zerbarst. «Wir haben uns vergessen» sagte er sanft, nahm Agathe
Weitere Kostenlose Bücher