Gesammelte Werke
Augenblick in die Leere stürzen werden.
Stürzten. Und die Leere trug sie. Der Augenblick hielt an; sank nicht und stieg nicht. Agathe und Ulrich fühlten ein Glück, von dem sie nicht wußten, ob es Trauer war; und nur die Überzeugung, die sie beseelte, daß sie erkoren seien, das Ungewöhnliche zu erleben, hielt sie davon ab, zu weinen.
Aber sie entdeckten bald, wenn sie nicht wollten, brauchten sie das Haus gar nicht zu verlassen. Eine breite Glastür führte von ihrem Zimmer auf einen kleinen Balkon zum Meer hinaus. Man konnte ungesehn im Türrahmen stehn, die Augen auf dieses niemals Antwortende gerichtet, die Arme schützend umeinander geschlungen. Blaue Kühle, in der die lebendige Wärme des Tags noch nach Mitternacht wie feiner Goldstaub lag, drang von der See. Die Körper, während die Seelen in ihnen hochaufgerichtet waren, fanden einander wie Tiere, die Wärme suchen. Und da gelang den Körpern das Wunder. Ulrich war mit einemmal in Agathe oder sie in ihm.
Agathe sah erschreckt auf. Sie suchte Ulrich außerhalb, aber fand ihn in der Mitte ihres Herzens. Sie sah wohl seine Gestalt außen in der Nacht lehnen, eingehüllt in Sternenlicht, aber das war nicht seine Gestalt, sondern nur deren leuchtende, leichte Hülse; und sie sah die Sterne und die Schatten, ohne zu begreifen, daß sie weit waren. Ihr Leib war leicht und behend, es war ihr, als ob sie in der Luft schwebte. Ein wunderbarer und großer Aufschwung hatte ihr Herz ergriffen, mit solcher Schnelligkeit, daß sie fast noch den leisen Ruck zu fühlen meinte. Die Geschwister sahen in diesem Augenblick einander betroffen an.
So sehr sie seit Wochen jeder Tag darauf vorbereitet hatte, fürchteten sie in dieser Sekunde, den Verstand verloren zu haben. Aber es war alles klar in ihnen. Keine Vision. Eher eine übermäßige Klarheit. Und doch schienen sie nicht nur den Verstand, sondern alle ihre Vermögen verloren und abgelegt zu haben; es regte sich kein Gedanke in ihnen, sie konnten keinen Vorsatz fassen, alle Worte waren weithin zurückgewichen, der Wille leblos; – alles, was sich im Menschen bewegt, war reglos eingerollt wie Blätter in glühender Windstille. Aber es lastete diese todähnliche Ohnmacht nicht auf ihnen, sondern das war, als ob sich eine Grabplatte von ihnen weggewälzt hätte. Was sich hören ließ in der Nacht, schluchzte ohne Laut und Maß, was sie anblickten, war formlos und weiselos und hatte doch aller Formen und Weisen freudenreiche Lust in sich. Es war eigentlich wundersam einfach: Mit den begrenzenden Kräften hatten sich alle Grenzen verloren, und da sie keinerlei Scheidung mehr spürten, weder in sich noch von den Dingen, waren sie eins geworden.
Sie sahen sich vorsichtig um. Es war beinahe ein Schmerz. Sie waren ganz verirrt, weithin von sich, in eine Weite gesetzt, darin sie sich verloren. Sie sahen ohne Licht und hörten ohne Laut. Ihre Seele war so übermäßig gespannt wie eine Hand, die alle Kraft verliert, ihre Zunge war wie abgeschnitten. Aber dieser Schmerz war so süß wie eine wundersame, lebendige Klarheit.
Und weiter wurden sie gewahr, daß die begrenzenden Kräfte in ihnen sich gar nicht verloren, sondern in Wahrheit verkehrt hatten, und mit ihnen hatten sich alle Grenzen verkehrt. Sie bemerkten, daß sie gar nicht stumm geworden waren, sondern sprachen, aber sie wählten nicht Worte, sondern wurden von Worten erwählt; es regte sich kein Gedanke in ihnen, aber die ganze Welt war voll wundersamer Gedanken; sie vermeinten, daß sie, und ebenso die Dinge nicht mehr einander abwehrende und verdrängende, geschlossene Körper seien, sondern geöffnete und verbundene Formen. Der Blick, welcher zeitlebens nur die kleinen Muster verfolgt, welche Dinge und Menschen auf dem ungeheuren Untergrund bilden, war mit einemmal umgekehrt worden, und der ungeheure Grund spielte mit den Gebilden des Lebens wie ein Ozean mit Streichhölzchen.
Agathe lehnte halb ohnmächtig an Ulrichs Brust. Sie fühlte sich in diesem Augenblick von ihrem Bruder in einer so weiten, stillen und reinen Weise umarmt, daß es nichts Ähnliches gab. Ihre Körper bewegten sich nicht und wurden nicht verändert, dennoch floß ein sinnliches Glück durch sie, dessengleichen sie noch nie erlebt hatten. Eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlichkeit. Das war kein Gedanke und keine Einbildung! Wo immer sie sich berührten, sei es an den Hüften, den Händen oder einer Strähne Haars, drangen sie ineinander ein.
Sie waren beide in diesem
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