Gesammelte Werke
Gedanken waren wie Gesang in einer falschen Tonart. Ulrich ließ diese Art Verstehen vor sich selbst nicht gelten. Einen geliebten Menschen verstehn, darf kein Nachspionieren, sondern muß ein Schenken aus einer Überfülle glückhafter Eingebungen sein. Man darf nur das erkennen, was bereichert. Man schenkt Eigenschaften in der untrüglichen Sicherheit einer vorherbestimmten Übereinstimmung, einer niemals vorhanden gewesenen Trennung.
(Besonders, wenn die ethische Großmut dadurch gereizt wird. Nicht Sehen oder Nichtsehen der Schwächen, sondern die große Bewegung, in der sie bedeutungslos schweben.)
Eine uralte Säule – umgestürzt in der Zeit Venedigs, Griechenlands oder Roms – lag zwischen Steinen und Ginster; jede Rille des Schafts und Kapitals vom strahlenspitzen Stichel des Mittagsschattens vertieft. Bei ihr zu liegen, gehörte zu den großen Liebesstunden.
Vier Augen sahen hin. Nichts als Mittag, Säule, vier Augen. Wenn der Blick zweier Augen ein Bild sieht, eine Welt; warum nicht der von vier?
Wenn zwei Augenpaare lange ineinanderblicken, kommt über die Blicke ein Mensch zum andren herüber, und es bleibt nur ein Gefühl, das keine Körper mehr hat. Wenn zwei Augenpaare in einer geheimnisvollen Stunde ein Ding anblicken und sich in ihm vereinigen – jedes Ding schwebt tief unten in einem Gefühl, und die Dinge stehn nur so fest, wie sie es tun, wenn dieser Boden hart ist — beginnt die starre Welt, sich leise und unaufhörlich zu bewegen. Sie hebt und senkt sich unruhig mit dem Blut. Die Zwillingsgeschwister sahen einander an. In dem vollen Licht war nicht zu bemerken, ob sie noch atmeten, oder wie Steine seit tausend Jahren dalagen. Ob die Steinsäule da lag oder sich im Licht lautlos aufgerichtet hatte und schwebte?
Es besteht ein bedeutsamer Unterschied in der Art, wie man Menschen und wie man Dinge betrachtet. Das Mienenspiel eines Menschen, mit dem man spricht, wird unsagbar befremdend, wenn man es als einen Vorgang in der Außenwelt betrachtet und nicht als einen fortlaufenden Signalaustausch zweier Seelen; von den Dingen sind wir gewohnt, daß sie schweigend daliegen, und halten es für eine beängstigende Vision, wenn sie ein bewegteres Verhältnis zu uns gewinnen. Aber es sind nur wir selbst, die sie so betrachten, daß die kleinen Veränderungen ihrer Physiognomie von keinen Veränderungen unseres Gefühls beantwortet werden, und um dies zu ändern ist im Grunde nicht mehr nötig, als daß wir die Welt nicht intellektuell betrachten, sondern daß statt unsren sinnlichen Maßwerkzeugen unsere moralischen Gefühle von ihr erregt werden. In solchen Augenblicken wird die Erregung, in der uns ein Anblick bereichert und beschenkt, dann so stark, daß nichts wirklich zu sein scheint als ein schwebender Zustand, der sich jenseits der Augen zu Dingen, diesseits zu Gedanken und Gefühlen verdichtete, ohne daß diese zwei Seiten zu trennen waren. Was die Seele beschenkt, trat hervor; was die Kraft dazu verliert, löste sich vor den Augen auf.
In dieser flimmernden Stille zwischen den Steinen lag ein panischer Schreck. Die Welt schien nur die Außenseite eines bestimmten inneren Verhaltens zu sein und mit diesem gewechselt werden zu können. Aber Welt und Ich waren nicht fest; in eine weiche Tiefe gesenkte Gerüste; aus einer Ungestalt sich gegenseitig heraushelfend. Agathe sagte leise zu Ulrich: «Bist du du selbst oder bist du es nicht? Ich weiß nichts davon. Ich bin dessen unkundig und ich bin meiner unkundig.» (Es war der Schreck: die Welt hing von ihr ab, und sie wußte nicht, wer sie war.)
Ulrich schwieg.
Agathe fuhr fort: «Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen. Ich bin weder treu noch ungetreu: Was bin ich doch? Ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich ...» Sie flüsterte. Ein mittagsstiller Schreck schien ihr Herz umklammert zu halten.
Immer wieder war die große Probe das Meer. Immer wieder, wenn sie den schmalen Hang mit den vielen Wegen, mit dem vielen Lorbeer, dem Ginster, den Feigen und den vielen Bienen hinangestiegen waren und oben auf die gewaltige hoch gebreitete Fläche hinaustraten, war es wie wenn nach dem Stimmen eines Orchesters der große Ton einsetzt. Wie müßte man sein, um das dauernd ertragen zu können? Ulrich schlug vor, daß sie sich hier ein Zelt errichten wollten. Aber er meinte es nicht ernst; er hätte sich davor gefürchtet. Es waren keine Gegner mehr da, man war allein hier oben; der Abstoß, (oder: welchen man empfängt,
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