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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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solange man den Forderungen der Menschen und der eigenen Gewissensgewohnheit widersprechen muß) welchen ein phantasievoller Mensch dadurch empfängt, daß er sich vom Alltag losreißt, war verbraucht, es ging in den letzten Kampf um die Entscheidung. Das Meer war wie eine unerbittliche Geliebte und Nebenbuhlerin; jede Minute war eine vernichtende Gewissenserforschung. Vor dieser Weite, die jeden Widerstand einzog, fürchteten sie, ohnmächtig zusammenzubrechen.
    Dieses ungeheuer Gedehnte war – ein wenig langweilig. Oder: war nicht zu ertragen, ohne daß es etwas langweilig wurde. Diese Verantwortlichkeit für jede kleinste Bewegung war – sie mußten es sich eingestehn – etwas leer, wenn man damit die Heiterkeit der Stunden verglich, wo sie keine solchen Ansprüche an sich stellten, und die Körper mit der Seele spielten, wie schöne junge Tiere mit einer hin- und hergerollten Holzkugel.
    Eines Tages sagte Ulrich: «Es ist weit und pastoral; es hat etwas von einem Pastor!» Sie lachten. – Dann erschraken sie über den Hohn, den sie sich selbst zugefügt hatten.
    Das Hotel hatte einen kleinen Glockenturm; in der Mitte des Dachs. Um ein Uhr läutete diese Glocke Mittag. Sie fangen an, auf diesen Ton zu warten, wie Erlösung von einer Schulstunde. Und die hellen Töne schnitten in die Stille wie ein scharfes Messer eine Haut berührt, welche vorher geschaudert hat, aber sich in diesem Augenblick beruhigt. «Wie schön» sagte Ulrich, als sie an einem dieser Tage hinabstiegen «ist es eigentlich, wenn einen die Notwendigkeit treibt. So wie man von hinten mit einem Stäbchen die Gänse treibt oder von vorn die Hühner mit Futter lockt. Und nicht alles durch ein Geheimnis geschieht ––––» Die weißblaue, zitternde Luft schauderte wirklich wie eine Gänsehaut, wenn man lang in sie hineinstarrte. Erinnerungen begannen damals in auffallender Weise Ulrich zu quälen; er sah plötzlich jede Statue und jede architektonische Einzelheit irgendeiner daran überreichen Stadt vor sich, die er vor Jahren besucht hatte; Nürnberg stand vor ihm und Amiens, obgleich sie ihn niemals gefesselt hatten; irgendein großes rotes Buch, das er vor Jahren in einer Auslage gesehen haben mußte, ging vor seinen Augen nicht weg; ein schmaler gebräunter Knabe, vielleicht nur der von seiner Phantasie erfundene Gegensatz zu Agathe, aber so, als ob er ihm einmal wirklich begegnet wäre, aber er wußte nicht wo – beschäftigte seine Vorstellungen: Gedanken, die ihm irgendwann einmal eingefallen waren und längst vergessen waren: Lautloses, Lichtarmes, mit Recht Vergessenes wirbelte im Süden der Stille empor und ergriff Besitz von der verlassenen Weite.
    Die aller Schönheit von Anfang an beigemengt gewesene Ungeduld begann in Ulrich zu rasen.
    Er konnte vor einem Stein sitzen, weltvergessen, in Anschauen versunken, und von dieser rasenden Ungeduld gepeinigt werden. Er war bis zum Ende gekommen, hatte alles in sich aufgenommen und lief Gefahr, daß er, ganz allein, laut zu sprechen begann, um sich nochmals alles vorzuerzählen. «Ja, man sitzt da» sagten seine Gedanken «und man könnte sich nur nochmals vorerzählen, was man sieht. Die Steine sind ja von einem ganz eigentümlichen Steingrün, und ihr Spiegelbild im Wasser spiegelt ... Ganz richtig. Ganz, wie man es sagt. Und die Steine haben Formen wie Karton ... Aber das nützt alles nichts und ich möchte weggehn. So schön ist es!»
    Und er erinnerte sich: zuhause, manchmal nach Jahren erst, und manchmal nur durch einen Zufall, wenn man gar nicht mehr weiß, wie alles war, fällt plötzlich von hinten, von solchem Gewesenen ein Licht her, und das Herz tut alles wie im Traum. Er sehnte sich nach Vergangenheit.
    «Es ist ja ganz einfach,» sagte er zu Agathe «und alle Leute wissen es, bloß wir nicht. Die Phantasie wird nur von dem erregt, was man noch nicht oder nicht mehr besitzt; der Leib will haben, aber die Seele will nicht haben. Ich begreife jetzt die ungeheuren Anstrengungen, welche der Mensch zu diesem Zweck macht. Wie dumm, wenn dieser Kerl, der Kunstreisende, diese Blume mit einem Edelstein und diesen Stein da mit einer Blume vergleicht: wenn es nicht die Klugheit wäre, sie für einen kurzen Augenblick in etwas anderes zu verwandeln. Und wie dumm wären alle unsre Ideale, da doch jedes, wenn man es ernst nimmt, einem andren widerspricht; du sollst nicht töten, also zugrundegehn? Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Gut, also in Armut leben? wenn ihr Sinn nicht

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