Gesammelte Werke
vertieftes Gesicht. Als sie die Wandernden überholten, rief sie plötzlich laut aus: «Ich zähme jeden Bär!» Es klang wie ein ungeschickter Scherz. Dabei griff sie aber nach der Schnauze des Bären, um sie am Maulkorb zu fassen, und Ulrich hatte Mühe, sie rasch genug von dem erschreckt aufbrummenden Tier zurückzureißen.
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Werden eines Tatmenschen
Direktor Leo Fischel hätte trotz seines gesetzten Alters am liebsten jeden gefragt: Wissen Sie, wer Leona ist? Aber er wußte, daß man das nicht tun dürfe. So blieb es sein Geheimnis. Wer war Leona? Leona war jene Leontine, die Ulrich so getauft hatte, weil sie ihm wie ein großes Löwenfell vorkam, das sich mit Delikatessen ausstopfte. Sie trat in kleinen Singspielhallen auf und sang bürgerliche Schmachtlieder mit außerordentlicher Ehrbarkeit. Sie aß und trank immer zuviel. Es war ihre Art von Vornehmheit. Wenn sie auf der Speisekarte Polmone a la Torlonia las, sprach sie es aus, wie wenn ein andrer beiläufig sagt, daß er mit dem Fürsten gleichen Namens gesprochen habe. Wenn ihr Magen sich hob – in jener leicht unangenehmen Weise, die noch lange kein Übergeben ist –, weil sie zu schwer gegessen und getrunken hatte, so empfand sie das wie eine gehobene gesellschaftliche Stellung. Es war eine üble Zeit Ulrichs gewesen, die er mit ihr verbracht hatte. Lange Nächte hindurch war ihm zumute gewesen, er habe sich in einen Käfig geschlichen und säße nun in der Ecke, während in der anderen dunklen Ecke ein unbekanntes Tier hockte, das ihn als seinen Mann ansehe. Er hatte sich bald und in einer anständigen Weise von Leona befreit, die es ihr ermöglichte, sich noch einige Monate in der Hauptstadt zu halten, von deren Genüssen sie sich nicht trennen wollte, und ohne es zu wissen, hatte er damit Leonas Glück begründet. Sie war das talentloseste Geschöpf, das je eine Bühne belastet hat, aber es gibt eine deutsche Wortverbindung «dumm und gefräßig», und durch die Beliebtheit dieser Wortverbindung machte sie ihr Glück. Natürlich gehörte auch Zufall dazu; sachliches Verdienst allein kommt ja nirgends vorwärts. Vielleicht war sogar auch an diesem Zufall Ulrich beteiligt; er hatte Arnheim, der als umsichtiger Reisender auch die niederen Vergnügungsstätten kennenlernen wollte, einmal in Gesellschaft Tuzzis zu einem Auftreten Leonas mitgenommen und sich das Unerlaubte erlaubt, auch Leo Fischel mitzubringen, der damals, um seine Frau zu ärgern, durchaus die Bekanntschaft Arnheims machen wollte. Der Abend war nicht gerade erfreulich verlaufen, aber Ulrich mochte wohl einige Erklärungen zu Leona gegeben haben, und Sektionschef Tuzzi, dem sie gefielen, mochte im Ministerium des Äußeren davon Gebrauch gemacht haben, da in der Diplomatie und Politik Anekdoten bekanntlich hoch im Wert stehn. Kurz, Leonas sehenswürdige Gefräßigkeit erregte die Wißbegierde einiger jungen Adligen, und als sich herausstellte, daß diese Frau auch noch dumm und schön sei, war ihr Ruf begründet. Es wurde zum Spaß des Tages und galt einige Wochen hindurch für witzig, Leona nach der Vorstellung zu füttern, so wie in der kaiserlichen Menagerie die Seehunde gefüttert wurden; es gelang Leona dadurch sogar, einen vorteilhaften Engagementswechsel zu erreichen. Vielleicht war Leona überhaupt nicht dümmer, sondern nur gefräßiger als ihre neuen Freunde. Man goß ihr Champagner, statt in den Mund, daran vorbei in den Busen, man streute ihr Kaviar ins Haar, man warf ihr Fleischschnitten oder Fische zu, nach denen sie schnappen sollte: aber schließlich bekam sie von alledem doch das meiste in den Mund, und sie hatte die Genugtuung, die Vergnügungen der besten Gesellschaft des Landes zu teilen. Wodurch sie den Ruf ihrer Dummheit aber immer von neuem bestärkte, war ihre Langsamkeit in allem, ausgenommen das Essen und Trinken. Man rief ihr ein gemeines oder rohes Wort zu, und sie blickte mit sanften, fragenden Augen auf, durch die der Anblick so langsam hineinglitt wie ein Kaninchen in den Schlund einer Schlange, die gründlich einspeichelt. Und wenn man sie körperlich angriff, wehrte sie sich so verlegen dagegen wie ein Mensch, der unsicher ist, ob er seine Kraft einer Kleinigkeit opfern solle. So war sie auch in der Liebe, die ihr völlig gleichgültig blieb, bis auf ein Fünkchen von Wollust, wenn man so sagen darf, das irgendwann im Verlauf der Begebenheit wie eine Mücke in ihrem ungetrübten Gleichmut sichtbar wurde und verschwand. Behendere Menschen nennen
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