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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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zu kommen.
    «Geh gleich hinaus» bat Walter. «Ich habe sie sehr aufgeregt zurücklassen müssen.» Und er erzählte Ulrich in Eile, daß Meingasts unerwarteter und wirklich auch ihn sonderbar berührender Abschied Clarisse offenbar erschüttert habe, denn im Anschluß daran habe sie sich in letzter Zeit auffallend verändert. «Du weißt ja, wie sie ist» sagte Walter, dem immer von neuem ein Tränenschleier über die Augen rann. «Ihre ganze Natur hindert sie, etwas, das sie nicht für recht hält, gewähren zu lassen; das Geschehenlassen, von dem unsere ganze Zivilisation voll ist, ist für sie eine Hauptsünde!»... Dann fügte er leiser hinzu, Clarisse habe ihm nach Meingasts Abreise gestanden, daß sie während seines Aufenthalts oft an einer Art Zwangsgedanken gelitten habe, die alle darauf hinaus kamen, daß die ganze einzigartige Entwicklung zum Großen, die Meingast durchlaufen habe, seit er als ein gewöhnlicher junger Schwerenöter von ihnen fortgegangen war, ihren Grund darin habe, daß er die Sünden aller Menschen, seiner Freunde, die mit ihm zu tun hatten, auf sich nahm und überwand, und wie sich zeigte, auch die von Clarisse und Walter selbst.
    Ulrich mußte seinen Jugendfreund wohl mit einer unwillkürlichen Frage angesehen haben, denn Walter schloß augenblicklich eine Verteidigung daran. Das klinge nur so beunruhigend, versicherte er, sei aber gar nicht überspannt. Jeder Mensch steige dadurch, daß er die Fehler anderer auf sich nehme und in sich verbessere. Clarisse habe bloß eine ungewöhnlich lebendige Heftigkeit, wenn sie plötzlich von solchen Fragen gepackt werde, und einen Ausdruck dafür ohne Zugeständnisse. «Aber du würdest, wenn du sie so genau kenntest wie ich, finden, daß hinter allem, was an ihr wunderlich erscheint, ein unvergleichliches Empfinden für die tiefsten Fragestellungen des Lebens liegt!» Die Liebe machte ihn blind, indem sie Clarisse für ihn durchsichtig bis auf den Grund machte, wo das liegt, was man meint, während alle Unterschiede zwischen erleuchteten und dummen, gesunden und kranken Köpfen sich in der weniger tiefen Schicht dessen abspielen, was man sagt und tut.
    [◁]
98
    Waldszene. Ulrich und Clarisse
    [Früher Entwurf]
    Clarisse hatte nach dem Auftritt mit ihrem Mann sich am ganzen Körper gewaschen und war aus dem Haus gelaufen. Sie wollte sich hinter der blauen Linie des Waldrandes verkriechen. Und während sie lief, war das Blinkende, Glitzernde, Tropfensprühende des weißen Wassers um sie, wie ein Stachelpanzer mit auswärts gerichteten Spitzen. Eine äußerste Gereiztheit des Reinlichkeitsbedürfnisses verfolgte sie. Als sie sich dem Wald näherte, sah sie zurück, sah gerade in die kleinen dunklen, wie Nasenlöcher offenen Fenster ihres Hauses, und vieles war schon damit vorbei. Kräuterduft brannte in der Vormittagssonne; Gewächse kitzelten sie; das Stechende, Harte, Heiße, Rücksichtslose der Natur tat ihr wohl. Sie fühlte sich der Enge des persönlichen Verhältnisses entrückt. Sie konnte denken. Es war offenbar geworden, daß Walter durch die Anziehung, die von ihr ausging, zugrundegerichtet wurde; viel tiefer als heute brauchte er kaum noch zu sinken.
    Also war es auch an ihr, das Opfer zu bringen! Aber was war das, das Opfer? Solche Worte fallen wie ein Gedicht ein. Das Wort Opfer ergab sich auf die gleiche Weise, wie es sich ergeben hatte, daß sie die Seele eines Mörders in sich trage, und besonders nach dem Auftritt mit ihrem Gatten mußte sie annehmen, daß sie auch die Seele eines Satyrs, eines Bockes in sich beherberge. Gleiches wird ja nur von Gleichem angezogen. Der aber erkennt, muß sich opfern: Das ist das unerbittliche Gesetz, nach dem das Große lebt. Clarisse begann zu verstehn; aber gleichzeitig mit dem Erkennen, daß sie die Seele eines Bockes in sich trage, begann auch der Schreck zu schmelzen, der wie ein Eisblock in sie gerollt war, und die dem Körper verursachte, von der Seele verhinderte Erregung taute in ihren Gliedern auf. Es war ein wundervoller Zustand. Die Berührung der Büsche drang durch die Haut tief in ihre Nerven ein. Das Schwellen des Mooses unter ihren Sohlen, das Zwitschern der Vögel wurden sinnlich und überzogen das Weltinnere wie mit dem Fleisch einer Frucht. «Ihr werdet mich verleugnen, wenn ihr mich erkennt!» dachte Clarisse. «Das heißt verleugnen, wenn und weil ich im Irrenhaus bin ...» Sobald das gedacht war, zeigte sich auch schon, daß Walter sie wirklich verleugnen lernen müsse,

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