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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Verlorengehn, wo jede Sekunde wie eine wilde, abgeschnittene, verantwortungslose Einsamkeit ohne Gedächtnis blöd in die Welt starrte. Und es riß Gebärden und Worte aus ihr heraus, die irgendwoher neben ihr vorbeikamen und doch noch sie waren, und der Ministerialrat saß davor und mußte gewahren, wie es etwas, das in sich verborgen das Geliebte ihres Leibes trug, ihm näherte, und schon sah sie nichts mehr als die unaufhörliche Bewegung, mit der sein Bart auf und nieder ging, während er sprach, gleichmäßig, einschläfernd, wie der Bart einer schauerlichen, halblaute Worte kauenden Ziege.
    Sie tat sich so leid; zugleich war es ein wiegend summender Schmerz, daß dies alles möglich sein konnte. Der Ministerialrat sagte: «Ich sehe es Ihnen an, daß Sie eine von jenen Frauen sind, deren Schicksal es ist, von einem Sturm hinweggerissen zu werden. Sie sind stolz und möchten es verbergen; aber glauben Sie mir, einen Kenner der Frauenseele täuscht das nicht.» Es war, als sänke sie ohne Aufhören in ihre Vergangenheit hinein. Aber wenn sie um sich sah, fühlte sie bei diesem Sinken durch Seelenzeiten, die wie tiefes Wasser übereinandergeschichtet waren, die Zufälligkeit, nicht daß diese Dinge um sie jetzt so aussähen, sondern daß dieses Aussehen sich auf ihnen hielt, als ob es fest zu ihnen gehörte, widernatürlich eingekrallt wie ein Gefühl, das über seine Zeit hinaus nicht von einem Gesicht will. Und es war sonderbar, wie wenn in dem leise rinnenden Faden des Geschehens plötzlich ein Glied zersprungen und aus der Reihe heraus in die Breite gefahren wäre, es erstarrten allmählich alle Gesichter und alle Dinge in einem zufälligen, plötzlichen Ausdruck, winkelrecht quer durch eine widergewöhnliche Ordnung untereinander verbunden. Und nur sie glitt mit schwankend ausgebreiteten Sinnen zwischen diesen Gesichtern und Dingen – abwärts – dahin.
    Der große, durch die Jahre geflochtene Gefühlszusammenhang ihres Daseins wurde dahinter in der Ferne einen Augenblick lang kahl für sich bemerkbar, fast wertlos. Sie dachte, man gräbt eine Linie ein, irgendeine bloß zusammenhängende Linie, um sich an sich selbst zwischen dem stumm davonragenden Dastehn der Dinge zu halten; das ist unser Leben; etwas wie wenn man ohne Aufhören spricht und sich vortäuscht, daß jedes Wort zum vorherigen gehört und das nächste fordert, weil man fürchtet, im Augenblick des abreißenden Schweigens irgendwie unvorstellbar zu taumeln und von der Stille aufgelöst zu werden; aber es ist nur Angst, nur Schwäche vor der schrecklich auseinanderklaffenden Zufälligkeit alles dessen, was man tut ...
    Der Ministerialrat sagte noch: «Es ist Schicksal, es gibt Männer, deren Schicksal das Bringen der Unruhe ist, man soll sich ihr öffnen, es schützt nichts davor ...» Aber sie hörte es kaum. Ihre Gedanken gingen indessen in sonderbaren, fernen Gegensätzen. Sie wollte mit einem Satz, mit einer großen, unbedachten Gebärde sich frei machen und dem Geliebten zu Füßen stürzen; sie fühlte, daß sie es noch gekonnt hätte. Aber etwas zwang sie, vor dem Schreienden, Gewaltsamen daran einzuhalten; vor diesem Strom sein zu müssen, um nicht zu versickern, sein Leben an sich zu pressen, um es nicht zu verlieren, selbst nur zu singen, um nicht plötzlich ratlos zu verstummen. Sie wollte es nicht. Etwas Zögerndes, nachdenklich Gesprochenes schwebte ihr vor. Nicht schreien wie alle, um die Stille nicht zu spüren. Auch nicht Gesang. Nur ein Flüstern, ein Stillwerden, ... Nichts, Leere ...
    Und einmal kam ein langsames, lautloses Sichvorschieben, über den Rand Beugen, der Ministerialrat sagte: «Lieben Sie nicht das Schauspiel? Ich liebe in der Kunst die Feinheit des guten Endes, die uns über das Alltägliche tröstet. Das Leben enttäuscht, bringt so oft um den Aktschluß. Aber wäre das nicht öde Natürlichkeit ...?»
    Sie hörte es plötzlich ganz dicht und deutlich. Noch war irgendwo jene Hand, eine spärlich nachgeschobene Wärme, ein Bewußtsein: Du, – aber da ließ sie sich los und irgendeine Sicherheit trug sie, jetzt noch einander das Letzte sein zu können, wortlos, ungläubig, zusammengehörig wie ein Gewebe von todessüßer Leichtheit, wie eine Arabeske für einen noch nicht gefundenen Geschmack, jeder ein Klang, der nur in der Seele des andern eine Figur beschreibt, nirgends, wenn sie nicht zuhört.
    Der Ministerialrat richtete sich auf, blickte sie an. Sie fühlte sich plötzlich vor ihm stehen und fern von sich

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