Casteel-Saga 03 - Gebrochene Schwingen
1. KAPITEL
F RÜHLINGSVERSPRECHEN
Ich saß auf der Veranda vor der Hütte und las den Brief an meinen Vater immer wieder durch. Es war ein warmer Morgen im Mai, der Frühling ging schon langsam in den Sommer über. Anscheinend war die Welt in den Willies zusammen mit mir erwacht – den kalten, dunklen Winter voller Tod und Trauer verdrängte langsam die Wärme des Frühlings und schließlich der heiße Sommer. Die Meisen und Rotkehlchen sangen, sie hüpften von einem Zweig zum andern und ließen die Blätter leicht erzittern. Das Sonnenlicht bahnte sich seinen Weg durch die Äste, strahlende Bündel goldenen Lichtes fielen auf Birke und Walnußbusch. Die Blätter schimmerten durchsichtig, wo das Sonnenlicht sie traf. Die Welt sah strahlend und lebendig aus.
Ich atmete tief durch und genoß den süßen, frischen Duft der Blüten und der saftigen grünen Blätter. Der Himmel über mir war tiefblau, und kleine, weiße Wattewolken tanzten darauf herum wie Kinder beim Spielen.
Seit dem Tag, an dem ich nach Winnerow zurückgekehrt war, hatte sich Logan stets um mich gekümmert. Er war da in jenen schrecklichen Tagen nach dem Tod von Tom, als Pa im Krankenhaus war. Er war da, als Pa mit Stacie und dem kleinen Drake in sein eigenes Haus nach Georgia zurückkehrte. Er war da, als Großvater starb und mich in der Hütte, dem Haus meiner Kindheit, allein ließ, das ich nun renoviert und in ein gemütliches Heim verwandelt hatte. Er war da an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal die mir liebgewordenen Schüler der Grundschule von Winnerow unterrichtete. Jetzt mußte ich lachen, wenn ich an diesen ersten Tag dachte, an dem ich meine Fähigkeiten erprobt hatte, eine Lehrerin zu werden, wie ich es mir immer erträumt hatte.
So wie an diesem Morgen und so, wie ich es seitdem jeden Morgen tat, war ich über die Schwelle der Hütte getreten, um einen Moment innezuhalten, mich in Großmutters alten Schaukelstuhl zu setzen und die Berge zu betrachten, ehe ich meinen langen Weg hinunter zur Schule antrat. Nur daß an jenem Morgen, als ich die Tür öffnete, Logan mit einem breiten, glücklichen Lachen an der Treppe stand. Seine dunklen Augen funkelten in der Morgensonne.
»Guten Morgen, Miss Casteel.« Er verbeugte sich tief. »Man hat mich gebeten, Sie zu Ihrem Klassenzimmer zu geleiten. Das ist ein besonderer Dienst der Schulverwaltung von Winnerow.«
»O Logan!« rief ich. »Du bist so früh aufgestanden, um mich hier abzuholen?«
»So früh war das gar nicht. Um die Zeit stehe ich immer auf und öffne den Drugstore. Er ist jetzt dreimal so groß wie zu unseren High-School-Zeiten«, sagte er stolz, »und er macht viel mehr Arbeit. Bitte, Miss Casteel«, fügte er hinzu und reichte mir die Hand. Ich ging die Stufen hinunter, nahm seine Hand, und zusammen gingen wir den Bergpfad entlang – genau wie damals, als wir verliebte Schulkinder gewesen waren.
Es war wirklich wie in früheren Tagen, als Logan und ich hinter Tom, Keith und Unserer-Jane hermarschiert waren, gefolgt von Fanny, die mit ihrem lockeren und lasziven Verhalten versuchte, Logan von mir fortzulocken, und die schließlich aufgab und davonrannte, wenn sie merkte, daß sie seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken konnte. Fast schon konnte ich die Stimmen meiner Geschwister hören. Die Erinnerung trieb mir die Tränen in die Augen.
»Aber, aber«, sagte Logan, als er es bemerkte, »dies ist doch ein glücklicher Tag. Ich möchte dich lächeln sehen. Ich möchte das Echo von deinem Lachen durch die Berge hallen hören, so wie es früher war.«
»O Logan, ich danke dir. Hab Dank, daß du da bist und dich um mich kümmerst.«
Er blieb stehen, faßte mich bei den Schultern und drehte mich zu sich. Seine Augen blickten ernst und voller Liebe.
»Nein, Heaven. Ich muß dir danken und zwar dafür, daß du so schön und liebenswert bist wie in meiner Erinnerung. Es ist, als ob« – er suchte nach Worten – »als ob die Zeit für uns stillgestanden und alles, was seitdem mit uns geschehen ist, nur ein Traum gewesen wäre. Jetzt wachen wir auf, du bist wieder da, und ich bin bei dir und halte deine Hand. Ich werde sie nie mehr loslassen«, betonte er.
Ein Zittern lief durch meine Finger, die mit den seinen verschlungen waren; ein Beben des Glücks, das bis zu meinem Herzen strömte, so daß es klopfte wie damals, als ich zwölf Jahre alt war und er mich das erste Mal küßte. Ich wünschte, er würde mich jetzt küssen, und ich wäre wieder das
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