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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Beziehung zu geistigen Dingen, im allerweitesten Sinne verstanden, ist intensiv. Mir will sie größer erscheinen als in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Damals verdrängten die machtpolitischen Kämpfe alles andere. Zugleich besetzte eine industriell hergestellte und gelieferte Massenkultur die Freizeit und enteignete das Bewußtsein der einzelnen. 1949 ist das politische Interesse erschlafft, während der verwaltete Kulturbetrieb die Menschen noch nicht wieder ganz eingespannt hat. Sie sind auf sich selbst und die eigene Überlegung zurückgeworfen. Sie stehen gleichsam unter dem Zwang zu einer Art Reprivatisierung. Daher die intellektuelle Leidenschaft.
    Wenn ich von dem Erfahrungskreis reden darf, in den ich versetzt wurde, der Arbeit an der Universität, dann darf ich eine passionierte Teilnahme der Studenten an den sachlichen Fragen feststellen, die den Lehrer beglücken muß. Insbesondere hat sich die Meinung, der Typus des auf rasches berufliches Fortkommen bedachten Examensstudenten herrsche vor, als irrig herausgestellt. Die Studenten der Philosophie und der Sozialwissenschaften, mit denen ich umgehe, zeigen das äußerste Interesse an praktisch unverwertbaren Problemen. Die schwere materielle Bedrängnis, in der die meisten leben, hat darauf kaum Einfluß. Unterscheidungen äußerster Subtilität, etwa in der Auslegung des Sinnes der Kantischen Erkenntnistheorie, finden überschwengliche Mitarbeit; übrigens erscheint die geistige Energie durchwegs merkwürdig auf Fragen der Deutung und Auslegung bestehender Gebilde, Dichtungen oder Philosophien, verlagert. Die jungen Menschen wirken durchwegs frei vom Gedanken an die tägliche Misere, selbstvergessen und glückvoll der Möglichkeit sich überlassend, ohne Zwang und Reglementierung, wenn auch ohne viel Hoffnung auf äußeren Erfolg, mit dem sich zu befassen, was ihnen am Herzen liegt. Man kommt zuweilen sich vor, als wäre man 150 Jahre zurückversetzt, in die Zeit der Frühromantik, als man ein so unpopuläres Buch wie die Fichtesche Wissenschaftslehre allgemein zu den großen Tendenzen des Zeitalters rechnete und als die Einzelwissenschaften bis ins Innerste sich bewegt zeigten von den Motiven der großen spekulativen Systeme. Selbst geistige Formen wie das unersättlich sich versenkende Gespräch, die längst vergangen dünkten und in der Welt zu weitem Maße vergangen sind, leben wieder auf. Wenn meine Beobachtung mich nicht trügt, dann beschränkt sich das keineswegs bloß auf die mit Philosophie umgehenden Studenten oder die sogenannte intellektuelle Elite. Die Tendenz macht etwa an technischen Hochschulen ebenso deutlich sich bemerkbar wie in der humanistischen Atmosphäre. Es handelt sich bei solcher angespannten Vergeistigung überhaupt nicht um ein Akademisches oder auf die Jugend Beschränktes, sondern um ein Allgemeines. Der Ernst, mit dem im privaten Kreise literarische Neuerscheinungen besprochen werden, wäre vor 20 Jahren kaum vorstellbar gewesen. Er berührt um so stärker, je weniger oft das Diskutierte, das was gerade da und verfügbar ist, der eigenen Qualität nach auf solchen Ernst Anrecht hätte.
    Es fällt so wenig schwer, dergleichen Beobachtungen sich zurechtzulegen, wie es umgekehrt dem gesunden Menschenverstand nicht schwer fiele, intellektuelle Gleichgültigkeit sich auszumalen. Daß die geistige Dürre des Dritten Reiches, das ja gerade in der kulturellen Sphäre niemals die Menschen sich gewann, Heißhunger hervorrief, ist einleuchtend. Und es liegt Notwendigkeit darin, daß die Desorientierung nach dem totalen Zusammenbruch der totalen Herrschaft das Bedürfnis produziert, sich durch Besinnung und Nachdenken wieder zurecht zu finden, nachdem bereits das bloße Nachdenken als Volksfremdheit und Eigenbrötelei eigentlich schon unter Strafe stand. Hinzu kommt, daß der Druck der anbefohlenen Kollektivierung, mit einem Male von den Menschen genommen, die Gegentendenz zum für-sich-Alleinsein oder zur Beschränkung auf selbstgewählte intime Gemeinschaft hervorbrachte. Alles bündische Wesen und Unwesen, wie es gerade die Jugend vor der Hitler-Zeit anzog, hat sich überschlagen. Isolierung wird nicht länger bloß als Bedrohung, sondern auch als Möglichkeit von Glück erfahren. Das bewirkt von sich aus ein Insichgehen, nächstverwandt der Vergeistigung. Schließlich ist ein geschichtliches Moment unverkennbar. Die deutsche Gesellschaft war nicht so durchorganisiert, daß die großen ökonomischen

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