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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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und seine theoretische Begründung oder gar um die Analyse der heute aktuellen Möglichkeiten zur ganzen, inhaltlichen Verwirklichung der Freiheit. Nicht daß die Menschen für solche Fragen unansprechbar wären – im Gegenteil, in den Augenblicken, in denen es einem gelingt, sie sichtbar zu machen und das Bewußtsein darauf zu lenken, glaubt man oftmals, ein Lösendes, Befreiendes wäre gelungen. Aber nur selten wird unmittelbar daran gerührt. Es ist, als ständen die Menschen unter einem geistigen Bann. Unfreiheit und Autoritätsglaube, wäre es auch bloß der an die Autorität dessen, was nun einmal ist, sind ins allgemeine Bewußtsein eingewandert. Niemand traut sich so recht an das Drängende, Brennende heran, von dem in Wahrheit doch alle wissen. Fast empfindet man den Gedanken, der über den Umkreis des Bestehenden und Approbierten hinausgeht, als Frevel. Da hält man sich denn lieber an den verfügbaren Vorrat, diskutiert, was einem zufällig in den Weg kommt, als wäre es gottgewollt, und freut sich im übrigen der Schärfe und Beweglichkeit des eigenen Geistes, ohne Rücksicht darauf, woran er sich wendet. Oftmals kann ich mich in all der Erregtheit und Bewegtheit des Eindrucks eines Schattenhaften, Unwirklichen nicht erwehren, eines Spieles des Geistes mit sich selber, der Gefahr von Sterilität. Offenbar will es dem Geist nur dann recht gelingen, wenn er sich nicht selber als seine eigene Erfüllung setzt, sondern bereit ist, an ein Anderes, außer ihm Seiendes sich zu verlieren: für allen Geist gilt das »Wirf weg, damit du gewinnst!«
    Daß die Rede von der Sterilität keine Übertreibung sei, können Sie sich am ehesten verdeutlichen, wenn Sie die Lage jetzt mit der nach dem Ersten Krieg vergleichen. Damals war der Expressionismus gegenwärtig. Er ist seit den Jahren der wirtschaftlichen Stabilisierung, etwa seit 1924, totgesagt worden. Schon damals hatte der Verdacht sein Recht, es wäre die glorreiche Überwindung des Chaos durch neue Ordnung und Objektivität vielfach bloß ein Deckbild der Reaktion, der Aufwärmung des Justemilieu, das sich nun auch noch als fortgeschritten aufspielte. Dabei tut es wenig zur Sache, ob der Expressionismus große, bleibende Kunstwerke hervorbrachte, deren Begriff vielleicht mit seinem eigenen unvereinbar ist. Immerhin wären die Bilder von Paul Klee, die Prosa von Franz Kafka, die produktivste Phase in der Musik Arnold Schönbergs ohne den Impuls des Expressionismus nicht möglich gewesen. Jedenfalls jedoch bedeutete der Expressionismus die großartige Anstrengung des Bewußtseins, aller Fesseln von Konvention und Verdinglichung sich zu entschlagen und dem in der verhärteten Welt vereinsamten Ich zum reinen Laut zu verhelfen. Nichts, was an Kraft und Unbeirrtheit dieser Intention zu vergleichen wäre, ist heute wirksam; weder in Deutschland noch in den anderen europäischen Ländern. Selbst in der Urheimat des Avantgardismus, in Frankreich, regt sich keine Avantgarde. Die dort vorherrschende geistige Bewegung, der sogenannte Existentialismus, wärmt in seinen voluminösen philosophischen Kundgaben eklektisch Motive aus Hegel, Kierkegaard und der jüngsten deutschen Anthropologie auf. Die Dichtungen aber, die von solcher Philosophie gespeist werden, offenbaren sich als recht handfeste und rationalistische Thesenstücke, deren Gestaltungsprinzipien zurückfallen hinter die radikale Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre. Das Ganze fügt sich, mit der unverbindlichen Verherrlichung von Entscheidung an sich, dem allgemeinen Kulturverschleiß recht wohl ein. Mag immer dagegen das im tapferen Widerstand gegen die Ordnung sich absolut setzende Ich des Expressionismus vergangen, mag es als nichtig enthüllt sein; verglichen mit dem, was es ausdrücken sollte, erscheint die Kunst, die heute das Vakuum ausfüllt, epigonenhaft oder hilflos oder beides. Es ist ein gespenstischer Traditionalismus ohne bindende Tradition. Begriffe aus dem Vorfaschismus, wie der der Haltung, des Einsatzes, auch etwa des soldatischen Menschen, treten zwar im Augenblick abgelöst von der politischen Zielsetzung auf, der sie ihren fragwürdigen Ursprung verdanken. Dafür aber werden sie zu Fetischen gemacht. Man zelebriert eine Art des Heroismus an sich als Ideal richtigen Menschentums. Aber es wäre doch zu bedenken, wofür eigentlich dieser Heroismus einsteht, oder ob dem Begriff der heroisch auf sich selbst beharrenden Innerlichkeit überhaupt jene Würde und Substantialität zukomme, die er

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