Gesammelte Werke
mit herrischer Geste beansprucht. Die jüngste Prosa, der alles sich nachsagen läßt, nur nicht, daß sie jung sei, erinnert zuweilen an einen mit purpurrotem und goldengrünem Laub reich und sorgsam zugeschütteten Kommißstiefel.
Der Stand des Bewußtseins wird bezeichnet durch Mangel an Sprengkraft, Abenteuerlust, selbst Neugier auf der einen Seite, und auf der anderen durch Unsicherheit in der Verfügung über die herkömmlichen Mittel, deren man sich bedient. Die Macht des Daseienden, seiner Einrichtungen nicht anders als seiner Trümmer, über die Menschen ist derart angewachsen, daß sie nicht wagen, ja nicht einmal recht vermögen, aus sich heraus dem Bestehenden das darüber hinausweisende Element entgegenzusetzen. Der Nachkriegsgeist, in allem Rausch des Wiederentdeckens, sucht Schutz beim Herkömmlichen und Gewesenen. Aber es ist in der Tat gewesen. Den traditionellen ästhetischen Formen, der traditionellen Sprache, dem überlieferten Material der Musik, ja selbst der philosophischen Begriffswelt aus der Zeit zwischen den beiden Kriegen, wohnt keine rechte Kraft mehr inne. Sie alle werden Lügen gestraft von der Katastrophe jener Gesellschaft, aus der sie hervorgingen. Darum will das Schutzsuchen so wenig geraten, wie andererseits das verängstigte Bewußtsein solchen Schutzes nicht entbehren möchte. Es ist nicht nur an dem, daß die gemäßigte und gebildete kulturelle Mitte, die so fatal lockt, in sich selber abbröckelt. Sondern es offenbart sich, dem desperaten Kulturwillen zum Trotz, allenthalben ein Bruch zwischen den Produzierenden und der Kultur, der sie nachhängen. Indem sie aus dem Vorrat zehren, vernichten sie, wozu sie sich bekennen. Die vor 30 Jahren geprägten nicht-konformierenden Worte und Gedanken sind selber konventionell und brüchig geworden. Sie reichen nicht mehr an das heran, was sie sagen sollen, sondern klappern. Die Errungenschaften zumal Rilkes und Georges, dessen Schule in den wenigen Jahren seit seinem Tode zerfiel, sind Allgemeingut geworden, aber um ihren Sinn gebracht und der ungeschickten Geschicklichkeit eines jeden Bildungsphilisters überantwortet.
Die Neutralisierung der Kultur, die befördert wird, indem man sie blind bewahrt, ist von dem Schweizer Dichter Max Frisch »Kultur als Alibi« genannt worden. Bildung heute hat nicht zum geringsten die Funktion, das geschehene Grauen und die eigene Verantwortung vergessen zu machen und zu verdrängen. Als isolierte Daseinssphäre, bar eines anderen Bezuges auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als etwa des abstrakten einer allgemeinen Not der Zeit oder der nationalistischen Versteifung, taugt Kultur dazu, den Rückfall in die Barbarei zu vertuschen. Es setzt sich darin der Brauch des Nationalsozialismus fort, über die Totenstarre der Herrschaft zu betrügen. Er verherrlichte die einmal arrivierten Kulturprodukte der Vergangenheit ohne Ansehen des Gehalts. Sie wurden lediglich um ihres eigenen Prestiges willen unablässig ausgestellt, sofern sie nicht gar zu offen mit der Diktatur und dem Rassewahn zusammenstießen. Solange Hitler herrschte, gelang es ihm wenigstens nicht, dem Volk die Produkte seiner Kulturvögte anders als auf dem Wege des Zwangskonsums zuzuleiten. Heute aber, da kein solcher Zwang mehr waltet, wird ein ganzes Lager von Begriffen und Bildern aus dem autoritären Bereich freiwillig übernommen. Gewiß ist seine Beziehung zur Diktatur durchschnitten. Ihrer inneren geschichtlichen Voraussetzung nach aber sind jene Begriffe und Bilder gekettet an die Vorstellung der Unvermeidlichkeit und Legitimität von Herrschaft und Not. Sie verraten ihre finstere Herkunft durch Klang und Gestus auch dann, wenn sie sich tragischhumanistisch gebärden.
Sucht man nach Gründen für all das, so drängt sich der Gedanke an die politische Lage auf. Die expressionistische Phase nach dem Ersten Krieg, von der ich sprach, war der großen politischen Bewegung verbunden. Sie stand im Zeichen der Hoffnung auf den unmittelbar zu verwirklichenden Sozialismus. Die offene Möglichkeit eines radikal veränderten Zustandes legte den Blick frei auf den gegebenen. Man brauchte sich nicht zu fügen, denn man wußte, daß es heute noch ganz anders sein, daß der Spuk der versteinerten Verhältnisse weggefegt werden könnte. Dies Bewußtsein war keineswegs durchwegs artikuliert. Gerade bei den bedeutenden Künstlern, die der Herrschaft des Bestehenden, dem Trug von Harmonie, den Clichés des bloßen Abbildes sich versagten, war das
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