Gesammelte Werke
Mächte den Geist in eigene Regie genommen und die Individuen geistig enteignet hätten. In gewissem Sinne stellte der deutsche Faschismus den Versuch dar, solche Enteignung unter dem Namen der Integration ›schlagartig‹, wie das verruchte Wort lautete, nachzuholen. Diese Integration ist mißlungen. Daraus ergibt sich ein Zustand, der hinter dem allgemeinen Zug der hochrationalisierten modernen Gesellschaft zurückgeblieben ist. Zarathustras Frage, ob der Tod Gottes noch nicht bekannt geworden sei, hat in der kulturellen Renaissance des gegenwärtigen Deutschland neue Gestalt angenommen. Es hat noch nicht sich herumgesprochen, daß Kultur in traditionellem Sinn tot ist – daß sie in der Welt zu einer Ansammlung von katalogisiertem, an Verbraucher geliefertem, dem Verschleiß preisgegebenem Bildungsgut ward, dem man eben jenen Ernst verweigert, der ihr in Deutschland heute wie stets gezollt wird. Das Glück des sich selbst genießenden Geistes, dem gerade der Zurückkehrende nur allzu willig sich überläßt, läßt sich dem im Gewinkel altertümlicher Städtchen vergleichen. Es zehrt von dem, was noch übrig, was dem Gang des Fortschritts noch nicht geopfert ist. Der Umgang mit Kultur im Nachkriegsdeutschland hat etwas von dem gefährlichen und zweideutigen Trost der Geborgenheit im Provinziellen. Und wie im Angesicht der zerstörten Städte das Gerade-noch-übrig-sein, das Ausnahmehafte und Anachronistische dessen, was an alter Kulturlandschaft erhalten blieb, ins grelle Licht tritt, so ist es vielleicht mit Kultur insgesamt bestellt.
Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte jenes Glück des prekär Überlebenden nicht verleumden. Es wäre nicht bloß unmenschlich, sondern auch abstrakt und oberflächlich, Geschichtliches nur von der angeblichen großen Tendenz aus zu sehen und zu beurteilen. Die Ungleichzeitigkeit der historischen Entwicklung in den verschiedenen Ländern ist ebensowohl Ausdruck der Beschaffenheit der Gesamtgesellschaft wie jene sich durchsetzende große Tendenz. Gerade je unbarmherziger der Weltgeist triumphiert, um so eher vermag das nach seinem Maße Zurückgebliebene nicht bloß fürs Verlorene, für die romantisch verklärte Vergangenheit einzustehen, sondern als Schlupfwinkel und Zufluchtsstätte eines zukünftigen Besseren sich zu erweisen. Aber man sollte doch mit dieser Hoffnung nicht allzu bequem es sich machen. Sobald das Zurückgebliebene sich verstockt und als das Bessere selbst aufwirft, also gleichsam seine Unschuld verloren hat, nimmt es bereits als handlicher Herzenswärmer ein Element der Unwahrheit an. Dann kommt es gerade jener großen Tendenz zu Hilfe, von der ausgenommen zu sein es beansprucht. Wir alle erinnern uns nur allzu gründlich daran, daß die nationalsozialistische Rede von »Blut und Boden« den bloßen Vorwand bot, die Verwüstungen zuzudecken, welche der zum äußersten Grauen entwickelte, kalkulierende Apparat anzurichten im Begriff war. Wer heute auf die ewigen Werte der Kultur sich berufen wollte, der wäre schon in Gefahr, eine Art von neuem Blut und Boden daraus zu machen. Über solche allgemeinen Erwägungen hinaus jedoch zeigt die kulturelle Renaissance Symptome, die zur kritischen Besinnung nötigen. Sie machen gerade den stutzig, dem es um Erfüllung des Geistes geht, anstatt daß er sich damit zufrieden gäbe, daß so etwas wie Geist überhaupt noch existiert. Dessen Begriff ist ja vieldeutig genug: er läßt der Lüge wie der Wahrheit Raum. Es steht nicht an, den Geist an sich zum letzten Wert zu erheben.
Lassen Sie mich versuchen, einige solcher Momente Ihnen zu bezeichnen. Ich sprach von der auffälligen Neigung zur Deutung und Interpretation vorfindlicher Kulturgüter. Daß es oftmals fruchtbarer ist, in bedeutende Texte sich zu versenken, als frischfröhlich darauflos zu denken, bin ich der letzte zu verkennen. Aber gemessen an jener Notwendigkeit der geistigen Reorientierung, die in der deutschen Situation so unabweislich liegt, hat doch offenbar die geistige Leidenschaft nur wenig mit den eigentlichen Fragen zu tun, an denen eine solche Reorientierung sich bewährte. Wenige kümmern sich darum, ob das fortschreitende Bewußtsein, das unaufhaltsam jeglichen Sinn und jegliche Norm in den Abgrund stößt, gleichwohl fähig sei, dem Grauen Einhalt zu tun, das es selbst entbindet. Wenige bemühen sich um Einsicht in die Gesetze, welche das jüngst vergangene Unheil zeitigten, um den Begriff einer menschenwürdigen Einrichtung der Welt
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