Gesammelte Werke
ordnen, bedarf es nach Kant einer Tätigkeit, die es verändert und formt. Jene Lehre nun ist in verschiedener Hinsicht dogmatisch. Einmal sind wir zu der Annahme, daß die Sinne uns disparates Material böten, berechtigt allein auf Grund einer atomistischen Psychologie, die verkennt, daß jedes Erlebnis notwendig dem Bewußtseinszusammenhang angehört und allein schon auf Grund dieser Zugehörigkeit zu anderen Erlebnissen in Beziehung steht, also bereits »geformt« ist. Dann aber ist die Annahme einer Tätigkeit, die an dem »Material« ausgeübt werden soll, einer Veränderung dieses Materials, naturalistisch; weder ist uns etwas über ein veränderndes Subjekt bekannt, da wir ja in der kritischen Philosophie den Begriff des Subjekts allein auf Grund der Kenntnis des Zusammenhanges der Erlebnisse bilden; noch können wir über die Art jener Tätigkeit etwas ausmachen, da wir ja das Material
unabhängig
von seiner subjektiven
»Formung«
überhaupt nicht kennen; schließlich sind die Begriffe der Tätigkeit und der Veränderung selbst Begriffe aus dem natürlichen Weltbild, deren zureichende Erklärung eben erst jene Bewußtseinsanalyse ergeben soll, als deren Grund sie Kant voraussetzt, indem er die subjektive Konstitution des Dinges – den Gegenstand eben jener Analyse – als »Tätigkeit« ansieht. Der Naturalismus des Spontaneitätsbegriffs bleibt nun zwar darum bei Kant ohne weiterreichende Konsequenzen, weil die sogenannte Spontaneität ja auf das Empfindungsmaterial beschränkt bleibt, am Gegebenen ihre Grenze hat und schließlich kaum in einem positiven Sinn verwandt ist, sondern als Metapher für den »transzendentalen Mechanismus« dient, dem auf Grund der Einheit des persönlichen Bewußtseins alle sinnlichen Data zugehören. Aber es bedurfte wiederum bloß der Überschreitung jener Kantischen Grenze – einer Überschreitung, die sich durch die idealistische Auffassung von der Minderwertigkeit des Erfahrungsmaterials von selbst ergab – um den Begriff der Spontaneität zu hypostasieren. Da die Spontaneität nach der Kantischen Auffassung nichts anderes ist, als das »Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleitet«, so war es nicht möglich, sie als Erlebnis zu fassen; gleichzeitig aber ging man über die Kantische Bestimmung hinaus, indem man sie als Tätigkeit dachte, die die Empfindungen selbst hervorbringt; wodurch sie zum Ding an sich-Begriff in die engste Beziehung gesetzt wurde. Man faßte sie als unbewußte Tätigkeit, und sie gibt den Grund ab nicht allein für Fichtes Begriff der freien Tathandlung, sondern wurde grundlegend für alle Philosophien des Unbewußten, etwa für Schopenhauers Begriff des Willens. Zur Handhabe jener Wendung des Spontaneitätsbegriffs diente wieder Kants Lehre vom intelligiblen Charakter; die von Kant behauptete »Kausalität der Vernunft«, die von der Naturkausalität unabhängig sein soll, suchte man eben in der Spontaneität, die als schöpferische Tätigkeit der menschlichen Vernunft metaphysisch hypostasiert wurde. Die Voraussetzung einer solchen unbewußten schöpferischen Tätigkeit der menschlichen Vernunft, deren Ursprung in einem Kantischen Problem klar zu verfolgen ist, prägt alle Philosophien des Unbewußten im neunzehnten Jahrhundert entscheidend. Nicht allein hat Nietzsche den Schopenhauerschen Willensbegriff übernommen, positiv gewandt und seine Moraltheorie ausschließlich an der Thesis der schöpferischen Spontaneität orientiert; auch der Begriff des
Lebens
im Sinne des modernen Vitalismus bis zu Bergsons élan vital fußt auf der Voraussetzung jener Spontaneität als transzendenter Ursache der Phänomene, und selbst die Arbeitshypothesen der materialistischen Biologie sind von der Setzung einer solchen Spontaneität beherrscht, die ganz im Sinne der großen idealistischen Systeme als unbewußte Tätigkeit aufgefaßt wird, nun um die Entstehung der Naturformen begreiflich zu machen. Man geht wohl kaum fehl, wenn man nächst dem Ding an sich-Problem das Problem der Spontaneität als den wichtigsten Ansatzpunkt der Philosophien des Unbewußten betrachtet und einer Theorie des Unbewußten ausdrücklich eine Analyse jenes Begriffes vorbehält. Mit ihm ist bereits auch eines der wesentlichsten Elemente aller späteren Philosophien des Unbewußten gegeben: der Glaube an die Unabhängigkeit des »Lebens« von konstanten transzendentalen Faktoren. Denn indem man den Grundgedanken der Kantischen Deduktion der Kategorien im Sinn eines kausal von der
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