Gesammelte Werke 6
keine Gefahr. Mir auch nicht. Keinem von uns droht etwas. Jedenfalls nicht bis sechs Uhr. Vielleicht auch noch bis sieben.«
»Sie sind mir für Diana verantwortlich«, drohte Viktor leise.
Golem holte ein Taschentuch hervor und rieb sich den Hals ab. »Ich bin für alles verantwortlich.«
»So? Mir wär’s lieber, Sie wären nur für Diana verantwortlich.«
»Sie hängen mir zum Hals heraus«, sagte Golem gereizt. »Wenn Sie wüssten, wie sehr, Sie schönes Entlein … Diana ist bei den Kindern. Ihr droht keine Gefahr. Gehen Sie jetzt. Ich habe zu tun.«
Viktor drehte sich um und ging zur Treppe. Sursmansor saß nicht mehr hinter dem Pult, nur die Lampe glomm noch über dem dicken karierten Heft. »Banew«, rief Dr. Quadriga aus einer dunklen Ecke. »Wo willst du hin? Gehen wir!«
»Ich kann doch bei dem Regen nicht in Pantoffeln gehen!«, erwiderte Viktor wütend, ohne sich umzudrehen. Das ist ein Rausschmiss, dachte er. Sie schmeißen uns aus dem Hotel. Vielleicht auch aus dem Rathaus. Ja, vielleicht sogar aus der Stadt … Und was dann?
In seinem Zimmer zog er sich rasch um und warf den Regenmantel über. Quadriga wich ihm nicht von der Seite.
»Willst du im Bademantel gehen?«, fragte ihn Viktor.
»Der hält warm«, antwortete Quadriga. »Ich habe zu Hause noch einen anderen.«
»Geh dich anziehen, du Holzkopf.«
»Nein«, widersprach Quadriga entschlossen.
»Dann gehen wir zusammen«, schlug Viktor vor.
»Nein. Auch nicht zusammen. Mach dir keine Sorgen, das geht schon. Ich bin’s gewohnt.«
Quadriga war wie ein Pudel, der unbedingt Spazierengehen wollte. Er sprang um Viktor herum, versuchte ihm in die Augen zu sehen, schnaufte, zerrte an ihm und lief zwischen ihm und der Tür hin und her – es war zwecklos, ihm etwas erklären zu wollen. Viktor drückte ihm seinen alten Regenmantel in die Hand und überlegte. Er nahm Geld und Papiere aus dem Schreibtisch, verteilte sie auf die Taschen, schloss das Fenster und löschte das Licht. Dann überließ er sich Dr. Quadrigas Willen.
Der Doktor honoris causa zog ihn mit gesenktem Kopf zielstrebig zur Hintertreppe, vorbei an der dunklen, kalten Küche, schob ihn hinaus in das regennasse Dunkel und folgte ihm auf den Fersen.
»Gott sei Dank, das wäre geschafft!«, sagte er. »Laufen wir!«
Laufen konnte er jedoch nicht, ihn übermannte sogleich die Atemnot. Außerdem war es so dunkel, dass sie sich nur tastend an den Mauern entlang vorwärtsbewegen konn ten. Die mit halber Kraft brennenden Straßenlaternen gaben ihnen nur eine vage Richtung an, und hier und da fiel rötliches Licht durch einen Fenstervorhang. Es goss in Strömen, und doch waren die Straßen nicht völlig menschenleer. Hin und wieder hörte man ein halblautes Gespräch, quäkte ein Säugling, ratterten schwere Laster vorbei, und ein Leiterwagen rumpelte mit eisenbeschlagenen Rädern über den Asphalt.
»Alle hauen ab«, murmelte Quadriga. »Alle sehen zu, dass sie wegkommen. Nur wir schleichen hier noch rum.« Viktor schwieg. Unter seinen Füßen gluckste es, die Schuhe waren durchgeweicht, über sein Gesicht rann lauwarmes Wasser. Quadriga klammerte sich wie eine Zecke an ihn, und alles schien ihm ebenso absurd wie sinnlos. Sie mussten noch durch die ganze Stadt, und es war kein Ende abzusehen. Er stieß gegen ein Abflussrohr, etwas knirschte, Quadriga riss sich los und brüllte gleich darauf aus vollem Halse: »Banew! Wo bist du?«
Während sie suchend durch das nasse Dunkel tappten, klappte über ihnen ein Fenster, und eine gedämpfte Stimme erkundigte sich: »Na, was hört man denn so?«
»Verdammt, ist das dunkel«, antwortete Viktor.
»Genau!«, bejahte die Stimme enthusiastisch. »Und Wasser gibt es auch nicht. Bloß gut, dass wir den Waschtrog gefüllt haben.«
»Was soll bloß werden?«, fragte Viktor und hielt den vorwärtsstrebenden Quadriga zurück.
Nach kurzem Schweigen antwortete die Stimme: »Wir werden bestimmt evakuiert. Ach, ist das ein Leben!«
Dann schlug das Fenster zu, und sie schleppten sich weiter. Quadriga hielt sich mit beiden Händen an Viktor fest und erzählte ihm verworren, wie er vor Schreck aufgewacht, hinuntergegangen und dort auf diesen Hexensabbat gestoßen war … Sie rannten im Dunkel gegen einen Lastwagen, taste ten sich an ihm vorbei und prallten gegen einen Mann, der einen schweren Gegenstand schleppte. Quadriga brüllte wieder los.
»Was ist passiert?«, fragte Viktor wütend.
»Der hat mich gestoßen«, teilte Quadriga gekränkt mit.
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