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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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sein Gesicht vollkommen sichtbar wurde. Noch nie habe ich so Entsetzliches, so Fürchterliches gesehen! Die Augen fehlten, ebenso alles Fleisch um den Mund, so dass man die entblößten Zähne sah. Das war also das Lächeln gewesen, das Hoffnung in uns erweckt hatte! Das … doch ich will lieber schweigen. Die Brigg zog, wie gesagt, unter unserm Stern vorüber und hielt langsam, aber stetig auf Lee. Mit ihr und ihrer grauenvollen Besatzung entflohen alle die heiteren Traumgesichter, die uns Erlösung, Seligkeit vorgespiegelt hatten. Wie sie bedächtig vorbeizog, hätten wir sie vielleicht anborden können, wäre nicht jedes Vermögen des Leibes und der Seele durch unsere plötzliche Enttäuschung und die Furchtbarkeit des Anblicks lahmgelegt gewesen. Wir hatten geschaut, empfunden, aber wir vermochten nicht eher zu denken, zu handeln, als bis es, ach! zu spät war. Wie sehr unsere Fassungskraft durch jenes Ereignis gelitten hatte, möge man aus dieser Tatsache folgern: Als die Brigg schon so weit von uns trieb, dass man nur noch die Hälfte ihres Rumpfes sehen konnte, wurde in allem Ernst der Vorschlag erwogen, sie durch Schwimmen wieder einzuholen.
    Ich habe seitdem vergebens danach getrachtet, irgendeinen Einblick in das grauenhafte Geheimnis zu erhalten, das um das Schicksal jenes fremden Schiffes webte. Sein Bau und allgemeines Aussehen machten es, wie ich schon sagte, wahrscheinlich, dass es ein holländisches Kauffahrteischiff war, und die Tracht der Mannschaft unterstützte diese Ansicht. Wir hätten leicht seinen Namen am Stern lesen und andere Beobachtungen anstellen können, aber die tiefgehende Erregung des Augenblickes raubte uns den Sinn für alle diese Fragen. Aus der safrangelben Farbe der noch nicht völlig verwesten Leichen schlossen wir auf die Vernichtung der gesamten Bemannung durch das Gelbe Fieber oder irgendeine andere giftige Krankheit derselben furchtbaren Art. War dies der Fall (und ein anderer dünkt mir kaum möglich), so muss, nach der Lage der Körper zu urteilen, der Tod mit entsetzlicher und überwältigender Plötzlichkeit über sie gekommen sein, anders, als selbst bei den tödlichsten Epidemien gewöhnlich zu geschehen pflegt. Vielleicht war durch Zufall Gift in ihre Vorräte geraten, oder sie hatten von irgendeinem unbekannten giftigen Fisch oder Seevogel gegessen; jedoch ist es vollkommen unnütz, Mutmaßungen zu hegen, wo alles auf immer in das Dunkel eines erschreckenden und unergründlichen Geheimnisses gehüllt erscheint.

Elftes Kapitel
    Wir verbrachten den Rest des Tages in einer Art stumpfen Hinbrütens und sahen dem entschwindenden Schiff nach, bis die Finsternis es unseren Blicken entzog und uns einigermaßen die Besinnung zurückgab. Die Qualen des Hungers und des Durstes kamen nun wieder und ließen alle übrigen Sorgen und Betrachtungen klein erscheinen. Bis zum Morgen aber war nichts zu tun, wir trachteten also, ein wenig auszuruhen, so gut es eben ging. Mir gelang das über alle Erwartung, ich schlief, bis meine Gefährten, die minder glücklich gewesen waren, mich bei Tagesanbruch weckten, um mich an neuen Versuchen, etwas von den Vorräten im Schiffsraum zu bergen, teilnehmen zu lassen.
    Jetzt herrschte eine große Windstille; die See war glatter, als ich sie je gesehen habe, das Wetter warm und angenehm. Die Brigg war außer Sicht. Wir begannen damit, dass wir noch eine der Ketten abrissen und beide an Peters’ Füßen befestigten; er machte wiederum Versuche, die Tür der Vorratskammer zu erreichen, da er es für möglich hielt, sie aufzubrechen; und dafür war in der Tat eine Möglichkeit vorhanden, da der Schiffsrumpf sich jetzt stärker aufgerichtet hatte.
    Es gelang ihm, die Tür zu erreichen; dort löste er eine der Ketten vom Fuß und suchte damit den Eingang zu erzwingen, was aber trotz aller Anstrengungen ohne Erfolg blieb, da das Holz sich fester zeigte, als wir dachten. Der lange Aufenthalt unter Wasser hatte ihn vollkommen erschöpft; es war unbedingt nötig, dass ein anderer seinen Platz einnahm. Parker meldete sich freiwillig, konnte jedoch nach drei fruchtlosen Versuchen nicht einmal bis zur Tür gelangen. Augustus mit seinem wunden Arm blieb natürlich ausgeschlossen, da er die Tür, auch wenn er sie erreicht hätte, nicht würde aufsperren können, und so wurde die Aufgabe mir übertragen. Peters hatte eine der Ketten im Gang gelassen, und beim Tauchen erkannte ich, dass ich nicht genügend Kraft besaß, mich unten im Gleichgewicht zu halten. Ich

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