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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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nach langem vergeblichen Suchen zu unserer größten Freude, dass eine der vorderen Ketten so locker saß, dass wir sie ohne Mühe losreißen konnten. Peters befestigte die Kette behutsam an seinen Füßen, dann stieg er zum vierten Mal hinunter, und diesmal gelang es ihm, bis zur Tür der Stewardskabine zu kommen. Doch zu seiner unsagbaren Betrübnis fand er sie versperrt und musste umkehren, ohne eingedrungen zu sein, da er mit der größten Anstrengung höchstens noch eine Minute unter Wasser zu bleiben vermochte. Nun waren unsere Aussichten düster genug, und weder Augustus noch ich enthielten uns bitterer Tränen, als wir bedachten, welch ein Heer von Schwierigkeiten uns umgab, wie gering die Wahrscheinlichkeit endgültiger Rettung war. Aber diese Schwäche blieb nicht von langer Dauer. Wir warfen uns auf die Knie und flehten Gott um Hilfe an in den vielen Gefahren, die uns umdrohten; dann erhoben wir uns mit erneuter Hoffnung und gestärkten Herzens, um zu überlegen, was sterbliche Kräfte noch zu unserer Erlösung vollbringen könnten.
Zehntes Kapitel
    Bald darauf ereignete sich ein Zwischenfall, der mir tiefere Erregung, größere Fülle des äußersten Entzückens wie des ärgsten Entsetzens enthalten zu haben dünkt als irgendeine der tausend Zufälligkeiten, die mich nachher in neun langen Jahren heimsuchten – diesen Jahren, in denen Geschehnisse der überraschendsten, der unerhörtesten und unbegreiflichsten Art einander förmlich drängten. Wir lagen nahe der Kajütentreppe auf dem Deck und besprachen die Möglichkeit, trotz allem nach der Vorratskammer zu gelangen, als mein Blick auf mein Gegenüber fiel, auf Augustus: er war blass wie der Tod, und seine Lippen bebten auf eine seltsame und unverständliche Weise. Tief beunruhigt redete ich ihn an; doch gab er keine Antwort, und ich fing an zu glauben, er sei plötzlich erkrankt, als ich seine Augen wahrnahm, die offenbar auf einen hinter mir befindlichen Gegenstand starrten. Ich wandte mich um, und niemals werde ich die Seligkeit vergessen, die jedes Teilchen meines Körpers zu durchzittern schien, als ich eine große Brigg in einer Entfernung von wenigen Seemeilen auf uns zusegeln sah. Ich sprang in die Höhe, als wäre mein Herz von einer Kugel getroffen worden; ich streckte meine Arme in der Richtung des Schiffes aus und stand so, unbeweglich, ohne eine Silbe hervorstammeln zu können. Peters und Parker waren ebenso ergriffen, doch auf verschiedene Art: Jener tanzte wie ein Toller auf dem Verdeck herum, indem er die wahnsinnigsten Reden vermengt mit Geheul und Flüchen von sich gab; dieser brach in Tränen aus und weinte eine ganze Zeitlang gleich einem Kind.
    Das Schiff war eine große Zwitterbrigg von niederländischer Bauart, schwarz bemalt, mit protzig vergoldeter Bugzier. Sie musste viel böses Wetter überstanden haben, und der Sturm, der sich für uns so verhängnisvoll zeigte, mochte auch sie arg zerzaust haben, denn ihr Fockmast fehlte und am Steuerbord war sie arg beschädigt. Sie lag, als wir sie zuerst erblickten, wie ich wohl schon sagte, an zwei Meilen entfernt und kam im Wind auf uns zu. Die Brise war gelind, und wir wunderten uns, dass die Brigg nur wenige Segel aufgesetzt hatte; natürlich kam sie langsam vorwärts, und unsere Ungeduld steigerte sich bis zum Fieber. Trotz unserer Erregung entging uns nicht das ungeschickte Manövrieren des fremden Schiffes. Es fiel so stark ab, dass wir es für unmöglich hielten, von ihm aus gesichtet zu werden. Dann glaubten wir wieder, man habe unsere Brigg gesehen, aber niemand an Bord bemerkt und wolle nun durch den Wind wenden und einen anderen Kurs einschlagen. Da brüllten wir nun jedes Mal mit aller Kraft unserer Lungen, worauf der Fremde seine Absicht zu ändern und auf uns zuzuhalten schien, und dieses sonderbare Manöver wiederholte sich zwei- oder dreimal, so dass wir endlich nur eine Erklärung dafür fanden: Der Steuermann musste betrunken sein.
    Wir bemerkten niemand auf ihrem Verdeck, bis die Brigg etwa eine Viertelmeile entfernt war. Da erblickten wir drei Seeleute, nach ihrer Tracht Holländer. Zwei lagen auf ein paar Segeln am Vorderkastell, der dritte schien, nahe dem Burgspriet über Steuerbord gelehnt, uns mit lebhafter Neugier zu betrachten. Es war ein großer, dicker Mensch; seine Haut war von sehr dunkler Färbung. Er schien uns zur Geduld zu ermahnen, indem er uns auf lustige, aber wunderliche Weise zunickte und dabei fortwährend lachte, so dass man seine blendend

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