Gesammelte Werke
Körper St. Eustaches, des Verlobten Maries, in der Nähe des Ortes gefunden wurde, den alle jetzt für den Mordplatz hielten. Ein Fläschchen mit der Aufschrift »Laudanum« lag leer neben ihm. Sein Atem roch nach Gift. Er starb, ohne gesprochen zu haben. Man fand einen Brief bei ihm, der kurz besagte, dass er Marie liebe und in den Tod gehen wolle.
»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen«, bemerkte Dupin, nachdem er meine Notizensammlung überflogen hatte, »dass dieser Fall weit verwickelter ist als jener aus der Rue Morgue, von dem er besonders in einem Punkt abweicht. Dies hier ist trotz seiner Scheußlichkeit ein
gewöhnliches
Verbrechen. Es hat nichts Absonderliches, nichts Unerklärliches. Aus diesem Grund hat man die Lösung des Geheimnisses für leicht gehalten – die aber aus ebendiesem Grund besonders schwierig ist. Man hielt es also zunächst für überflüssig, eine Belohnung auszusetzen. G.s Häscher wussten unschwer zu begreifen, wie und warum solche Scheußlichkeit begangen worden sein mochte. Sie hatten Erfindungskraft genug, um sich mannigfache Art und Weisen und mannigfache Gründe auszumalen; und weil es
nicht unmöglich
war, dass eine dieser zahlreichen Vermutungen den Tatsachen entspräche, nahmen sie das einfach für
gewiss
an. Doch die Leichtigkeit, mit der man zu allen diesen Möglichkeiten kam, und die Wahrscheinlichkeit, die jede für sich hatte, hätten als bezeichnend für die Schwierigkeit, nicht für die Leichtigkeit der Lösung erachtet werden müssen. Ich sagte vorhin, dass gerade die Absonderlichkeiten es sind, die der Vernunft auf ihrer Suche nach der Wahrheit die beste Handhabe bieten, und dass in Fällen wie diesem hier die Frage nicht sein sollte: Was ist geschehen?, sondern vielmehr: Was ist geschehen, das noch nie vorher geschehen ist? Bei den Nachforschungen im Haus der Frau L’Espanaye waren die Beamten G.s entmutigt und verzweifelt wegen eben der Ungewöhnlichkeit des Ereignisses, die einem gut geschulten Intellekt gerade das sicherste Zeichen zum Erfolg geboten hätte. Derselbe Intellekt könnte aber durch den gewöhnlichen Verlauf dieser anderen Mordsache, die den Polizeibeamten so leichten Triumph vorgaukelt, in Verzweiflung gestürzt werden.
In der Angelegenheit der Frau L’Espanaye und ihrer Tochter gab es schon bei Beginn unserer Untersuchungen keinen Zweifel, dass ein Mord stattgefunden hatte. Der Gedanke an Selbstmord war von Anfang an ausgeschlossen. Auch hier können wir diese Vermutung sofort zurückweisen. Der an der Barrière du Roule gelandete Leichnam wurde unter Umständen gefunden, die uns in diesem wichtigen Punkt alle Zweifel nehmen. Es ist aber die Annahme aufgetaucht, die aufgefundene Leiche sei gar nicht jene der Marie Rogêt – und nur für Überführung
ihres
Mörders oder ihrer Mörder ist die Belohnung ausgesetzt, und nur auf sie bezieht sich unsere Abmachung mit dem Präfekten. Wir beide kennen den Herrn gut. Man darf ihm nicht allzu sehr trauen. Wenn wir bei unseren Nachforschungen von der gefundenen Leiche ausgehen und dann einen Mörder aufstellen, so geschähe es vielleicht doch, dass man die Leiche gar nicht als jene der Marie ansieht; gehen wir aber von der lebenden Marie aus, so haben wir wohl sie, finden sie aber nicht ermordet – in beiden Fällen tun wir nutzlose Arbeit, da wir es mit Herrn G. zu tun haben. Also schon um unsertwillen, wenn nicht um des Rechtes willen, ist es durchaus notwendig, dass unser erster Schritt sein muss, die Identität der Leiche mit der vermissten Marie Rogêt festzustellen.
Im Publikum haben die Beweisführungen des ›Etoile‹ Gewicht gehabt; und dass die Zeitung selbst von ihrer Bedeutung durchdrungen ist, geht aus der Art hervor, wie sie einen ihrer Aufsätze über dieses Thema einleitet: ›Mehrere Tagesblätter‹, sagt sie, ›sprechen von dem entscheidenden Artikel in unserer Montagsnummer.‹ Mir scheint der Artikel nur für den Eifer seines Verfassers entscheidend zu sein. Wir müssen im Auge behalten, dass die Aufgabe unserer Zeitungen im Allgemeinen mehr darin besteht, Sensation zu erwecken, Fragen aufzuwerfen, als die Sache der Wahrheit zu fördern. Dieser Zweck wird nur dann verfolgt, wenn er mit dem ersteren zusammenfällt. Das Blatt, das einfach die allgemeine Ansicht teilt, erntet – so wohlbegründet diese Ansicht auch sein mag – keinen Glauben beim Volk. Die Menge sieht nur den als weise an, der die
schärfsten Widersprüche
mit der allgemeinen Ansicht aufstellt. In der
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