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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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standen in englischer Sprache und in einer Handschrift, die von der charakteristischen Schrift meines Freundes so sehr abwich, dass ich sie nur mit einiger Mühe als die seinige erkennen konnte, folgende Verse:
    Du warst für mich all dieses, Lieb,
    Was Seele füllt und Sein,
    Warst Inselgrün im Meere, Lieb,
    Springbrunn und Altarstein
    Voll Frucht- und Blumenwunder, Lieb,
    Und all das Blühn war mein!
    O Traum, dem Sterben kam!
    O Sternenhoffen, dessen Licht
    Sturmwolke mir benahm!
    Ein Rufen aus der Zukunft spricht:
    »Voran! Voran!« – Doch Gram
    Um das, was war, nimmt Zuversicht,
    Macht müd und flügellahm.
    Denn weh! des Lebens warmer Glanz
    Erstrahlt für mich nicht mehr!
    Die Woge raunt im Brandungstanz
    Zum Strand: nie mehr – nie mehr
    Wird wundgeschossne Schwinge ganz,
    Dürr bleibt der Baum und leer,
    Dem jäh ein Blitz zerschlug den Kranz.
    Und Tag ist Traum, der zu dir wacht,
    Und Nacht ist Traum und leitet
    Hin, wo dein dunkles Auge lacht
    Und wo dein Fuß hinschreitet,
    Der in ätherischen Tänzen sacht –
    Auf welchen Sternen gleitet?
    O schwarzer Tag – o Wogenbrand,
    Der dich von mir gerissen.
    Von Liebe fort zu greisem Stand
    Auf ein unheilig Kissen,
    Von Weiden fort am Nebelstrand,
    Die um dich weinen müssen!
    Dass diese Zeilen in Englisch geschrieben waren – in einer Sprache, mit der ich den Verfasser nicht vertraut geglaubt hätte –, setzte mich nicht wenig in Erstaunen. Ich wusste, dass er sehr umfangreiche Kenntnisse besaß und auch besondere Freude darin fand, sie anderen zu verbergen, so dass die Tatsache an sich mich nicht weiter überraschte. Das Datum aber, muss ich bekennen, verblüffte mir gar sehr. Das Ortsdatum lautete ursprünglich
London
, war aber später überkritzelt worden – jedoch nicht so, dass ein sorgfältig suchendes Auge nicht den ursprünglichen Ortsnamen hätte hindurchlesen können. Ich sage, das verblüffte mich gar sehr, denn ich entsann mich gut, dass ich in einer früheren Unterhaltung meinen Freund einmal gefragt hatte, ob er irgendwann einmal in London der Marchesa di Mentoni begegnet sei, die vor ihrer Verheiratung mehrere Jahre in jener Stadt lebte, und seine Antwort hatte, wenn ich mich nicht irre, mir zu verstehen gegeben, dass er die Hauptstadt Großbritanniens niemals besucht habe. Ich möchte hier aber auch erwähnen, dass ich mehr als einmal hörte (ohne natürlich solchen unwahrscheinlichen Gerüchten Glauben zu schenken), der Mann, von dem ich spreche, sei nicht nur der Geburt, sondern auch der Erziehung nach ein Engländer.
    »Da ist ein Gemälde«, sagte er, ohne gewahr zu werden, dass ich in der Tragödie blätterte, »da ist noch ein Gemälde, das Sie noch nicht gesehen haben.« Und den Vorhang beiseite schleudernd, enthüllte er das lebensgroße Porträt der Marchesa Aphrodite.
    Menschenkunst konnte nicht mehr in der Schilderung übermenschlicher Schönheit tun! Dieselbe himmlische Gestalt, die in der vergangenen Nacht auf den Stufen des Dogenpalastes vor mir gestanden, stand noch einmal vor mir. Doch im Ausdruck des Gesichts, das über und über in Lächeln erstrahlte, lauerte schon (unbegreiflicher Widerspruch!) jener kleidsame Schatten der Melancholie, der von vollendeter Schönheit stets untrennbar ist. Ihr rechter Arm lag über der Brust, der linke hing herab auf eine eigentümlich geformte Urne. Der eine schmale Elfenfuß, der sichtbar war, berührte nackt den Boden; und kaum erkennbar in der leuchtenden Luft, die ihre Lieblichkeit umwob, breiteten sich ein paar hauchzarte Schwingen. Mein Blick schweifte von dem Gemälde hin zu meinem Freund, und unwillkürlich kamen mir die monumentalen Worte aus Chapmans »Bussy d’Ambois« auf die Lippen:
    »Da droben steht er wie ein römisch Standbild –
    Und wird dort stehn, bis Tod ihn marmorn macht.«
    »Kommen Sie«, sagte er endlich und trat an einen kostbaren emaillierten Tisch aus massivem Silber, auf dem ein paar Trinkbecher von seltsamer Farbe neben zwei hohen etruskischen Vasen standen, die dieselbe eigenartige Form hatten wie jene im Vordergrund des Porträts – und, wie ich annahm, mit Johannisberger gefüllt waren. »Kommen Sie«, sagte er herb, »lassen Sie uns trinken! Es ist früh – doch lassen Sie uns trinken! – Es ist tatsächlich früh«, fuhr er versonnen fort, als ein Engel mit schwerem goldenen Hammer dröhnend die erste Stunde nach Sonnenaufgang kündete. »Es ist tatsächlich früh – doch was tut’s? Trinken wir! Bringen wir der großen feierlichen Sonne,

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