Gesammelte Werke
äußeres Aussehen anlangte), das von mir zu Hause sorgsam hergestellt worden war; die Chiffre D.s hatte ich mit Hilfe eines aus Brot geformten Petschafts leicht nachahmen können.
Die Ruhestörung auf der Straße war durch das verrückte Gebaren eines Mannes verursacht worden. Er hatte in eine Gruppe von Weibern und Kindern einen Flintenschuss abgegeben. Es stellte sich aber heraus, dass es ein blinder Schuss gewesen war, und man ließ den Burschen als harmlosen Narren oder Betrunkenen laufen. Als die Menge sich verlaufen, trat D. vom Fenster zurück, wohin ich ihm gefolgt war, nachdem ich meinen Raub in Sicherheit gebracht hatte. Bald darauf verabschiedete ich mich. Der anscheinend Wahnsinnige war ein von mir bezahltes Subjekt.«
»Welche Absicht verfolgten Sie damit«, fragte ich, »dass Sie den Brief durch ein Faksimile ersetzten? Wäre es nicht besser gewesen, ihn gleich beim ersten Besuch zu ergreifen und davonzulaufen?«
»D.«, erwiderte Dupin, »ist ein kühner Bursche voll großer Tatkraft, und seine Dienerschaft ist ihm blind ergeben. Hätte ich den tollen Versuch gemacht, den Sie da vorschlagen, so hätte ich das Ministerpalais wohl kaum mehr lebend verlassen, und die guten Pariser hätten nichts mehr von mir gehört. Doch war es nicht dies Bedenken allein, was mich zurückhielt. Sie kennen mein politisches Vorurteil. Im vorliegenden Fall bin ich ein Parteigänger der betreffenden hohen Dame. Achtzehn Monate hat der Minister sie in seiner Gewalt gehabt; jetzt hat sie ihn in der ihrigen – denn da er nicht weiß, dass er den Brief nicht mehr besitzt, wird er sein herausforderndes Wesen beibehalten. Er wird sich also selbst den Sturz bereiten, der ebenso plötzlich als beschämend für ihn sein wird. Mag man über das facilis descensus Averno sagen, was man will – bei allem Emporkommen gilt das, was die Catalani vom Singen sagte: ›Es ist viel leichter hinauf- als hinunterzukommen.‹ In unserem Fall hier habe ich kein Mitgefühl mit dem, der da stürzt. Er ist ein monstrum horrendum, ein genialer Kopf ohne edle Grundsätze. Ich gestehe aber, dass ich etwas darum gäbe, in dem Augenblick seine Gedanken lesen zu können, wenn er sich durch das veränderte Benehmen derjenigen, die der Präfekt ›eine gewisse Person‹ nennt, veranlasst sieht, den Brief zu öffnen, den ich ihm in den Kartenhalter gesteckt habe.«
»Wieso? Haben Sie ihm etwas hineingeschrieben?«
»Nun – es schien mir nicht ganz recht, das Innere leer zu lassen – das wäre ja beleidigend gewesen. D. spielte mir einst in Wien einen schlimmen Streich, und ich versicherte ihm damals halb scherzhaft, ich würde ihm das nicht vergessen. Ich hielt es also, in der Überzeugung, dass er begierig sei, zu erfahren, wer ihn so überlistet habe, für schade, ihm nicht einen Anhaltspunkt zu geben. Er kennt meine Handschrift gut, und so schrieb ich denn mitten auf das weiße Blatt die Worte:
›… Un dessein si funeste,
S’il n’est digne d’Atrée, est digne de Thyeste.‹
Sie stehen in Crébillons ›Atrée‹.«
Der Teufel der Verkehrtheit
Bei Feststellung der Eigenschaften und Impulse – der prima mobilia der menschlichen Seele – haben die Psychologen eine uns eingeborene Eigenschaft immer wieder übersehen – ein Gefühl, das unserer Seele von Urbeginn unwandelbar und ewig mitgegeben ist. Wir haben sein Vorhandensein unseren Sinnen entgehen lassen – aus Mangel an Glauben, an Gewissenhaftigkeit; wir haben weder die Offenbarung noch die Philosophie tief genug genommen und jene Eigenschaft nur darum übersehen, weil sie so überragend und dabei so wesenlos ist. Wir sahen keine
Notwendigkeit
für den Impuls – für diesen Hang. Wir konnten es nicht begreifen, vielmehr, wir hätten es nicht begreifen können, wenn der Begriff dieses »primum mobile« sich uns jemals aufgedrängt hätte, wir hätten nicht begreifen können, wieso er geschaffen sei, die Ziele der Menschheit – seien es irdische oder ewige – zu fördern. Es kann nicht geleugnet werden, dass die Psychologie und alles in allem auch die Metaphysik sich »a priori« entwickelt haben. Der intellektuelle oder logische Mensch, mehr noch als der erfahrene und beobachtende, unternimmt es, Ziele, Gründe zu suchen – Gottes Absichten mit der Menschheit. Hat er so zu seiner Zufriedenheit die Absichten Jehovas sondiert, so erbaut er auf diesen Absichten seine zahllosen Systeme der Vernunft. In der vergleichenden Psychologie z. B. schlossen wir zunächst – natürlich
Weitere Kostenlose Bücher