Gesammelte Werke
genug –, dass die Nahrungsaufnahme des Menschen göttlicher Wille sei. Wir wiesen daraufhin dem Menschen einen Ernährungstrieb zu, und dieser Trieb ist die Geißel, mit Hilfe deren die Gottheit den Menschen, er mag wollen oder nicht, zum Essen zwingt. Zweitens stellten wir fest, es sei Gottes Wille, dass der Mensch sein Geschlecht vermehre, und sogleich entdeckten wir einen Liebestrieb; und so machten wir’s weiter mit dem Widerspruchsgeist, mit der Idealität, der Kausalität – kurz so machten wir’s mit jeder Eigenschaft, mochte sie nun einen seelischen Trieb, ein moralisches Empfinden oder eine Fähigkeit des reinen Intellekts vorstellen. Und bei dieser Aufstellung der
principia
menschlichen Handelns sind die Spurzheimiten (ob nun mit Recht oder Unrecht) lediglich in die Fußstapfen ihrer Vorgänger getreten, indem sie alles von der vorgefassten Bestimmung des Menschen ableiteten und auf feste Absichten des Schöpfers zurückführten.
Es wäre weiser, es wäre sicherer gewesen, solche Klassifizierung (wenn wir denn überhaupt klassifizieren müssen) auf der Basis dessen aufzubauen, was Menschen gewöhnlich oder gelegentlich taten und immer gelegentlich getan hatten, als auf dem, was wir für die ausgemachte Absicht Gottes mit der Menschheit annahmen. Wenn wir Gott in seinen sichtbaren Werken nicht begreifen können, wie denn in seinen unfassbaren Gedanken, die die Werke ins Leben rufen? Wenn wir ihn in seinen körperlichen Schöpfungen nicht erfassen können, wie denn in seinen unkörperlichen Stimmungen und Schöpfungsphasen?
Durch Induktion a posteriori hätte die Psychologie dahin kommen müssen, eine eingeborene und urewige Triebfeder menschlichen Handelns aufzudecken: ein paradoxes Etwas, das wir, aus Mangel an einer treffenderen Bezeichnung, »Verkehrtheit« nennen wollen. Ich möchte sagen, es ist eine
Bewegung
ohne
Beweggrund
, ein Anreiz ohne ersichtlichen Zweck, oder wenn diese Bezeichnung widersinnig erscheint, wollen wir die Behauptung so weit modifizieren, zu sagen: Wir folgen dem Anreiz, weil wir ihm nicht folgen sollten. Der Theorie nach kann wohl kein Grund unvernünftiger sein, den Tatsachen nach gibt es keinen stärkeren. In gewissem Sinne, unter gewissen Umständen wirkt er ganz unwiderstehlich. Ich weiß nicht gewisser, dass ich atme, als ich weiß, dass die Gewissheit, ein Unrecht, einen Fehler zu begehen, oft die
eine
unwiderstehliche Macht ist, die allein unser Handeln bestimmt; auch lässt diese unwiderstehliche Neigung, um des Unrechts willen unrecht zu tun, keine Analyse oder Auflösung in andere Elemente zu. Es ist ein eingewurzelter, urewiger – ein elementarer Hang. Ich weiß, man wird sagen, das Begehen einer Handlung, weil wir fühlen, wir sollten sie
nicht
begehen, ist nichts als eine Abart dessen, was die Psychologie
Widerspruchsgeist
nennt. Ein Blick aber wird die Unrichtigkeit dieser Annahme zeigen. Der psychologische Widerspruchsgeist entspringt in erster Linie der Selbstverteidigung. Er ist unser Schützer vor Beleidigung. Sein Grundgedanke ist unser Wohlergehen; und so steigert sich mit seiner Entwicklung auch unser Wunsch nach Wohlergehen. Hieraus folgt, dass der Wunsch nach Wohlergehen sich gleichzeitig mit jeder Eigenschaft entwickeln muss, die lediglich eine Abart des Widerspruchsgeistes ist; bei jenem Etwas aber, das ich als
»Verkehrtheit«
bezeichne, wird nicht nur der Wunsch nach Wohlergehen gar nicht entstehen, sondern ein ganz entgegenwirkendes Gefühl vorhanden sein.
Ein Appell an das eigene Herz ist schließlich die beste Antwort auf die eben angeführte Sophisterei. Keiner, der seine eigene Seele vertrauensvoll um Rat fragt, kann die elementare Ursprünglichkeit der fraglichen Eigenschaft leugnen.
Sie ist da
, mag sie uns auch noch so unbegreiflich erscheinen. Es gibt keinen Menschen, der nicht zum Beispiel zu irgendeiner Zeit von dem ernstlichen Wunsch besessen gewesen wäre, einen Zuhörer durch unnütze Umschweife zu quälen. Der Sprecher weiß, dass er missfällt; er hat allen guten Willen, zu gefallen; er ist für gewöhnlich kurz, deutlich und klar; der prägnanteste, lakonischste Ausdruck schwebt ihm auf der Zunge; nur mit Mühe hält er ihn zurück; er scheut und fürchtet den Zorn dessen, zu dem er spricht – dennoch packt ihn der Gedanke, durch gewisse Einschaltungen und Umschweife könne dieser Zorn noch gesteigert werden. Dieser eine Gedanke genügt. Der Einfall wird zu einem Wunsch, der Wunsch zu einem Verlangen, das Verlangen zu einem
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