Gesammelte Werke
hinüberdämmern, als er plötzlich in die Höhe fuhr und einen entsetzlichen Eid schwor, dass er keinem Artur Pym zuliebe da liegen und schlafen würde, solange eine so herrliche Brise aus Südwest wehe. Ich war in meinem Leben noch nie so erstaunt gewesen, da ich ja seine Absicht nicht kannte und der Meinung war, die Weine und Liköre hätten ihn um seinen Verstand gebracht. Jetzt aber sprach er ganz ruhig, indem er sagte, er sei keineswegs, wie ich dächte, betrunken, vielmehr sei er noch nie so nüchtern gewesen. Er habe nur keine Lust, fügte er hinzu, diese schöne Nacht wie ein Hund zu verschlafen, und sei entschlossen, aufzustehen und sich im Boot zu vergnügen. Was mich besessen hat, kann ich nicht sagen; aber er war noch nicht fertig mit seiner Rede, als ich mich von Erregung und Verlangen durchglüht fühlte und seinen wahnsinnigen Einfall als einen der köstlichsten und vernünftigsten Gedanken pries. Das Wetter war nahezu stürmisch, und wir standen tief im Oktober. Trotzdem machte ich in einer Art Ekstase einen Satz aus dem Bett und erklärte ihm, ich sei gerade so tapfer wie er und gerade so willig, einen tollen Streich zu wagen, wie irgendein Augustus Barnard in Nantucket.
Wir schlüpften eilends in unsere Kleider und liefen zum Boot hinab. Es lag an der alten, verfallenen Werft nahe dem Holzhof von Pankey & Co. und schlug sich an den rauen Pfählen fast zuschanden. Augustus stieg hinein und schöpfte das Boot aus, es war zur Hälfte voll Wasser. Sobald dies getan war, hissten wir Großsegel und Klüver, richteten sie nach dem Wind und stießen mutig vom Land ab.
Der Wind blies, wie ich schon gesagt habe, kräftig aus Südwest. Die Nacht war sehr klar und sehr kalt. Augustus hatte sich ans Steuer gesetzt, ich stand am Mast auf dem Halbverdeck. Wir flogen in raschem Tempo dahin, keiner von uns hatte seit der Abfahrt eine Silbe gesprochen. Nun fragte ich meinen Begleiter, wohin er zu steuern gedenke und wann er glaube, dass wir wieder zurück sein könnten. Er pfiff eine Weile vor sich hin und gab dann widerhaarig zur Antwort: »Ich steche in See; du kannst ja nach Hause gehen, wenn du es für passend erachtest.« Ich blickte ihn an und erkannte sofort, dass er trotz seiner angenommenen Gleichgültigkeit sehr erregt war. Deutlich konnte ich ihn im Mondenschein sehen; sein Gesicht war blässer als ein Marmorbild, seine Hand zitterte so heftig, dass er kaum das Steuer halten konnte. Ich nahm wahr, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, und eine ernste Besorgnis befiel mich. Damals verstand ich nicht viel von der Kunst, ein Fahrzeug zu lenken, ich war völlig auf die seemännische Geschicklichkeit meines Freundes angewiesen. Dazu kam, dass der Wind mit einem Mal zugenommen hatte und wir rasch auf die Luvseite des Landes gelangten; doch schämte ich mich, irgendwelche Furchtsamkeit zu zeigen, und bewahrte beinahe eine halbe Stunde ein entschlossenes Schweigen. Endlich konnte ich’s nicht länger ertragen und äußerte zu Augustus, es wäre wohl am besten, wir kehrten um. Wieder dauerte es eine Minute, bis er antwortete oder überhaupt von meinem Wink Notiz nahm: »Allmählich«, sprach er endlich, »wir haben Zeit – allmählich – nach Hause.« Solche Erwiderung kam mir nicht unerwartet, aber in ihrem Ton lag etwas, das mich mit einem Gefühl nicht zu beschreibenden Grauens erfüllte. Wieder betrachtete ich aufmerksam den Sprecher. Seine Lippen waren vollkommen blutlos, und seine Knie schlugen so heftig aneinander, dass er kaum zu stehen vermochte. »Um Gottes willen, Augustus«, schrie ich jetzt in tiefer Herzensangst, »was fehlt dir? – Was ist los? – Was willst du beginnen?« – »Los«, stotterte er, scheinbar höchst verwundert, indem er zugleich das Steuer fahren ließ und nach vorne auf den Schiffsboden fiel, »los? … nichts ist los. Lieber … wir fahren heim … wie du siehst!« Da flammte die Wahrheit vor meinen Augen auf, ich stürzte mich auf ihn und richtete ihn in die Höhe. Er war betrunken, viehisch betrunken; er konnte weder stehen noch sprechen noch sehen. Seine Augen waren ganz verglast; als ich ihn in meiner Verzweiflung losließ, kollerte er wie ein Klotz in das auf dem Grund des Bootes angesammelte Wasser, aus dem ich ihn eben gezogen hatte. Es war klar, dass er im Verlauf des Abends weit mehr getrunken hatte, als ich dachte, und dass sein Benehmen im Bett die Folge eines gesteigerten Rausches war, eines Rauschzustandes, der gleich dem Wahnsinn seinem Opfer nicht selten
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