Gesang der Daemmerung
länger von Ihren Pflichten abhalten.«
Da hatte er recht. Mrs. Potter unterrichtete jetzt eigentlich die Gruppe der blauen Zöglinge, die bei ihr das perfekte Benehmen einer jungen Dame in Gesellschaft erlernten. Vermutlich hatte sie die arme Mrs. Crincle abgestellt, auf die Mädchen aufzupassen, während sie selbst mit Mr. Strykers plauderte und Wacholderlikör trank.
»Setz dich hier neben mich, Marian!«, befahl Strykers, als Mrs. Potter den Speiseraum verlassen hatte. »Wir haben ein paar Kleinigkeiten miteinander zu besprechen, nichts Weltbewegendes, aber es muss ja doch alles geregelt sein.«
Er zog die Lippen breit und lächelte, wobei er sich bemühte, seine Zähne nicht zu zeigen. Marian hatte jedoch längst gesehen, dass ihm ein Schneidezahn fehlte und auch der Rest seines Gebisses nicht viel wert war. Bevor sie sich setzte, zog sie den Stuhl ein wenig weiter von ihm fort, weil sie seine Neigung kannte, mit den Knien ihre Beine zu berühren, und ekelte sich davor. Sie hatte jedoch Pech, denn Strykers rutschte mitsamt seinem Stuhl einfach ein Stück näher, und der Abstand, den sie listig geschaffen hatte, war so wieder aufgehoben.
»Da wäre diese Einladung, Marian«, begann Strykers und unternahm einen Versuch, seine seidene Weste ein wenig herabzuziehen. Sein Bauch war jedoch so füllig, dass das Kleidungsstück gleich wieder hochrutschte.
»Mrs. Featners schickte sie mir – sie ist die Mutter deiner Freundin Kate, wie du ja weißt. Man möchte dich zu einer Abendgesellschaft bitten, was ich jedoch als sehr unpassend empfinde. Außerdem fehlt mir die Zeit für derartige Kindereien.«
»Aber … Sie müssen mich nicht auf diese Abendgesellschaft begleiten, Mr. Strykers. Ich bin ja Kates Freundin, sozusagen ein Familienmitglied, und brauche keinen Begleiter.«
Marian war zwar an dieser Abendgesellschaft wenig gelegen, sie wollte ihre Freundin Kate jedoch nur ungern enttäuschen. Kate war ein aufrichtiger und anhänglicher Mensch, eine Freundin, wie man sie nur selten fand, und auch ihre Eltern waren ausgesprochen nett.
»Nun, ich denke, wir müssen jetzt erst einmal über deine Zukunft reden«, wich Strykers ihr aus. »Im September endet dein Aufenthalt hier, dann wirst du in ein vollkommen anderes Leben eintreten.«
Sie nickte eifrig. Ihr verstorbener Vater hatte ihr einen kleinen Landsitz, genannt »Maygarden«, hinterlassen, außerdem ein nicht unbeträchtliches Vermögen, das ihren Lebensunterhalt sicherte. Sie würde also nach Yorkshire zurückkehren und in dem schönen alten Landhaus wohnen – dort, wo sie früher mit ihren Eltern so glücklich gewesen war. Es war zwar reichlich einsam, aber sie liebte diese hügelige waldreiche Landschaft. Sie würde lange Ausritte unternehmen, ihre Freunde einladen, Bücher lesen und Klavier spielen. Vielleicht auch heiraten, irgendwann, wenn sich der Richtige fand.
Marian zuckte zusammen, da sie jetzt wieder die Annäherung von Strykers feistem Knie an ihrem rechten Bein spürte. Er strich an ihrem Oberschenkel entlang, kostete den Moment ihrer Überraschung aus, um sein Knie fest an ihr zu reiben, und blies ihr dabei seinen warmen Wacholderatem ins Gesicht. Als sie jetzt angewidert mit dem Stuhl beiseiterückte, hörte sie ihn unwillig knurren.
»So sitz doch ruhig, Mädchen!«, tadelte er sie. »Weshalb bist du so nervös? Ich meine es gut mit dir, das weißt du doch.«
»Natürlich, Mr. Strykers.«
Ihre Stimme klang kühl, und der Blick ihrer blauen Augen war so eisig, dass sogar dem eingefleischten Schürzenjäger klar wurde: Hier gab es für ihn nichts zu gewinnen. Verärgert zog er sich zurück, holte seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und pfiff durch die Zähne.
»Du liebe Güte, wie spät es geworden ist! Hör mir jetzt zu, Marian, und unterbrich mich nicht mehr! Was ich dir zu sagen habe, ist nicht unwichtig.«
Marian dachte amüsiert, dass sie ganz gewiss nicht die Ursache für seine Verspätung war. Doch sie schwieg – je eher er ausspuckte, was er zu sagen hatte, desto rascher würde er wieder von hier verschwinden.
»Ein junges Ding wie du, Marian, kann in der heutigen Zeit nicht ausschließlich auf eine Heirat hoffen, um versorgt zu sein. Ich denke, du solltest dir deine musikalischen Fähigkeiten zunutze machen – man weiß nie, ob du nicht später einmal allein zurechtkommen musst, dann könntest du singen oder Klavierstunden geben …«
Marian begriff nicht recht. Sie besaß doch ein kleines Vermögen, das Strykers
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