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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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aber blieb ihm schließlich nur der Mauerschatten als Versteck, wo die jahrzehntelange Feuchtigkeit grünes Moos auf Boden und Steinen hatte wachsen lassen, weil kein Sonnenstrahl diese Stelle je erreichte. Besonders ärgerlich dabei war, dass er sich diese Tortur völlig umsonst angetan hatte. Diejenige, die er hatte beobachten wollen, war gar nicht im Garten aufgetaucht.
    Er streckte seine Arme empor und dehnte den Brustkorb, spürte, wie das fahle Mondlicht seinen Körper mit sanften Händen streichelte, und überließ sich für ein Weilchen diesem erregenden Gefühl. Den albernen Gehrock hatte er längst abgeschüttelt, auch die übrige Kleidung, die er vorsichtshalber angelegt hatte, um jene, die ihn sehen konnten, zu täuschen. Jetzt bedeckte nur noch das graue Tuch der Nacht seinen Körper, ein anschmiegsamer und zugleich unzerstörbarer Anzug, der ihn wärmte und schützte, solange er denken konnte. Vermutlich war er schon mit dieser zweiten Haut geboren worden.
    Er raffte die abgestreiften Kleider und Stiefel an sich, um keine Spuren zu hinterlassen, und stieg als grauer Nebelstreif von der Wiese empor. Behutsam schlängelte er sich durch das krumme Geäst der Eiche und mied die Stelle, wo ein brütender Vogel auf seinem Gelege saß, um ihn nicht unnötig zu erschrecken. Die meisten wilden Tiere erkannten die nächtlichen Schattenwesen, und einige fürchteten sie. Viele Haustiere der Menschen hatten diese Fähigkeit jedoch verloren, sie waren fast genauso blind und ahnungslos wie ihre Herrschaft.
    Das stundenlange Warten, auf engstem Raum zusammengedrängt, hatte ihn zuerst verärgert, später jedoch, als die Mädchen im Garten ihr Unwesen trieben und eine von ihnen so dicht an der Mauer vorüberlief, dass sie ihm fast auf den Kopf getreten wäre, fand er die Sache skurril und war erheitert. Auch jetzt, während er auf Höhe der Baumkronen und Dachfirste durch die nächtliche Stadt schwebte, musste er bei der Erinnerung an die braven Pensionatsschülerinnen mit ihren Gartenhacken und Gießkannen immer wieder grinsen. Ihre Kleider waren alle grau und vom gleichen Schnitt, offensichtlich eine Art Uniform, die sie blass und geschlechtslos wirken ließ. Tatsächlich waren die meisten dieser Mädelchen noch unfertig wie junge Gänse, pummelig oder spindeldürr, mit rundlichen Kindergesichtern und Stupsnasen, hohen Stimmchen und dünnen Beinchen. Nur die älteren glichen schon erwachsenen Frauen, doch keine dieser fleißigen Gärtnerinnen hatte auch nur den winzigsten Ansatz von Liebreiz besessen. Möglicherweise lag es an dem alten feuchten Gemäuer, in dem sie eingesperrt waren, vielleicht auch an der unförmig dicken Lehrerin, die sie Miss Woolcraft nannten – ein Ausbund an plumper Hässlichkeit –, dass die Zöglinge dieses Pensionats wie graue Mäuse wirkten. Wieder musste er grinsen, und ihn überkam die Lust, einen Schabernack anzurichten.
    Er suchte ein stattliches Wohngebäude in der Nähe von Eaton Place aus und warf das Kleiderbündel in einen der aufragenden gemauerten Schornsteine. Er hatte die Sachen letzte Nacht in einem Gasthaus in Soho mitgenommen – nun würde die Dienerschaft der adeligen Familie rätseln, wie dieses Zeug wohl in den Kamin gelangt war. Dann spürte er den Hauch eines anderen Nebelschattens vorübergleiten, und ihm wurde klar, dass er im Begriff war, leichtsinnig zu werden. Die Nacht war lau, und der Mond zeigte sich in nahezu voller Rundung – zu dieser Zeit waren allerlei Wesen unterwegs, und die Nachtschatten, zu denen er gehörte, lebten nicht mit allen verwandten Geistern in guter Freundschaft.
    Er dehnte sich, bemüht, seinen grauen Nebelkörper durchsichtig werden zu lassen, und zog noch eine letzte Abschiedsrunde über dem Gewirr der Häuser und Straßen der großen Stadt, die in solch lebendig warmem Dunst unter ihm brodelte. Es war schade, diesen Ort verlassen zu müssen, denn er bot für seinesgleichen eine Menge köstlicher Vergnügungen – allen voran die Gaslaternen, die den braunen Flussnebel gelblich färbten, und die künstlichen Lichter in den Schaufenstern, bunte Schattenflecken von solcher Pracht, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Nur die Polarlichter waren damit zu vergleichen. Bedauernd warf er noch einen letzten Blick auf die Brücke mit den beiden Türmen, wo sich die Nebelfrauen aus dem Fluss ein Stelldichein gaben, dann stieg er mit großer Geschwindigkeit aufwärts und glitt in eine der grauen Wolken hinein, die nach Norden reiste.
    Im

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