Gesang der Rosen
Lippen, dann nickte er nur und blickte wieder hinunter ins Tal.
Wie herrlich lag dieses gesegnete Land in der Sonne! Heilige Erde, aus deren Schoß die Kulturen sprossen. Fruchtbare Erde, die Jahrhunderte trug und aus deren Schollen der Atem der Ewigkeit strömte. O herrliche, stolze, mächtige, schönheitstrunkene Provence, Wiege der in Verse geschmolzenen Liebe, Region wehender, bestickter Schleier um lange, geflochtene Locken.
Provence – du Mutter romanischen Lebens!
André Tornerre steckte das zerknitterte Papier wieder in seine Tasche und erhob sich, während Jeanette im hohen Gras sitzenblieb und verwundert zu ihm aufschaute.
»War das alles?« fragte sie und traf noch keine Anstalten, sich ebenfalls zu erheben. »Und die anderen Gedichte?«
»Ich muß sie erst noch abschreiben«, antwortete André und wischte Grashalme von seiner Hose. »Ich wußte ja nicht, ob dir auch nur eines gefällt. Aber nun, da ich sehe, daß das der Fall ist …« Er zögerte und sah scheu lächelnd auf das Mädchen hinunter, dann sagte er entschlossen: »Nun werde ich die anderen auch noch abschreiben.«
Jeanette nickte und stand jetzt ebenfalls auf. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren sehr gut entwickelt, trug mit sichtlichem Stolz ihre feste junge Brust unter dem engen Kleid und ahnte aus den Blicken der Burschen im Dorf, daß ihre Hüften und Schenkel das Eckige des Kindlichen zu verlieren und sich zu runden begannen. Gemessen an ihr, wirkte André Tornerre wie ein Mittelding zwischen einem Knaben und einem Jüngling. Nur wenn man in seine tiefen Augen blickte, wurde man stutzig und ahnte unter den widerspenstigen Haaren die nicht mehr lange zu bändigende Kraft, die hervorzubrechen sich anschickte.
»Vielleicht ist es doch unrecht, dem Abbé Bayons den Fund zu verschweigen«, meinte Jeanette.
»Du hast geschworen«, antwortete der Junge, und der harte Wille ließ wieder die Backenknochen in seinem Gesicht hervortreten. »Beim Augenlicht deiner Eltern hast du geschworen!«
Aber plötzlich entspannten sich seine Züge, und ein träumerischer Schleier legte sich über die braunen Augen. Mit einer scheuen Bewegung legte er den Arm um Jeanettes Schulter und drückte seine Wange an ihre von der Sonne heißen Locken.
»Möchtest du das Lied haben?« fragte er sie sanft.
»Ach ja, bitte, schenk es mir«, antwortete sie und blickte in das Gesicht Andrés, das von innen heraus zu leuchten schien.
Wie unheimlich er ist, mußte sie wieder denken, wie fremd, wie weit fort von mir, obwohl ich seinen Arm spüre. Soll dies schon der erwachsene André sein?
Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Sie konnte sich noch kein Urteil erlauben. Sie selbst, früh gereift unter der südlichen Sonne, fühlte ja das Aufblühen ihres eigenen Körpers, sie ahnte ja selbst, daß noch Geheimnisse, süß, schwer und trunken wie der rote Wein an den Hängen in ihren Gliedern schliefen, Geheimnisse, die in den Sommernächten wie heiße Wellen über ihre Brust fluteten und in ihr den wilden Drang weckten, an den Büschen entlangzustreichen, um da das leise Lied eines lockenden Ritters zu hören.
Ob auch André diesen süßen Taumel kannte? Ob das Leuchten seines Gesichts wohl Sehnsucht ausdrückte nach den Tiefen seines Wesens, das er jetzt langsam aus seinem Glauben an sich selbst gewann?
Er wurde unheimlich, dieser André, richtig unheimlich.
»Wenn ich dir das Lied schenke«, sagte er nach einer Weile und betonte jedes Wort, »dann darfst du es niemandem vorlesen oder zeigen, es nicht einmal erwähnen. Es ist nur ganz allein für dich, hörst du, nur du sollst davon wissen …« Er zögerte, doch dann sagte er mutig: »… weil du so schön bist!«
Und er zog das zerknitterte Papier wieder aus der Tasche, drückte es ihr in ihre kleine, weiche Hand, deren Finger sich schnell um das kostbare Blatt schlossen, sah ihr noch einmal tief und beschwörend in die hübschen Augen und drehte sich plötzlich schroff um, als müsse er befürchten, seine Tat zu bereuen. In großen, weiten Sätzen eilte er den Hügel hinab und ließ Jeanette allein auf der Kuppe im heißen Wind zurück.
»André«, sagte sie leise und drückte das Papier an die junge Brust. »André, warum läufst du denn davon?«
Aus dem Tal herauf drang von den Feldern der Gesang der Mägde, und ihre Lieder bejubelten die Schönheit dieser Welt.
*
Im Küsterhaus neben der kleinen Kirche saß der breite Schmied Jean Tergnier dem spitzbärtigen etwas gebeugten Küster Marcel Tornerre
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