Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
einem Mann nie tat, es sei denn, auf Umwegen). Bei ihr lag die Initiative des Wortes, der Rendezvous, der Küsse, und sie legte solchen Wert darauf, daß sie es nicht mochte, wenn sie zuerst geküßt wurde, und, seit sie Liebhaber hatte, beinah niemals duldete, daß ein Mädchen ihre Liebkosungen erwiderte. So begierig sie danach war, ihre Freundin nackt unter den Augen zu haben, unter den Händen, so überflüssig erschien es ihr, sich selbst zu entkleiden. Oft suchte sie einen Vorwand, um es zu vermeiden, behauptete zu frieren oder unpäßlich zu sein. Übrigens gab es wenige Frauen, an denen sie nicht irgend etwas schön gefunden hätte; sie erinnerte sich, daß sie kurz nach ihrer Entlassung aus dem Lyzeum ein häßliches und unsympathisches, stets mißmutiges kleines Mädchen hatte verführen wollen, einzig deshalb, weil es einen Wald blonder Haare hatte, die in schlecht geschnittenen Locken Licht und Schatten auf ihr Gesicht zauberten, auf eine stumpfe, aber feinkörnige, straffe, zarte, vollständig matte Haut. Doch die Kleine hatte sie abblitzen lassen, und wenn eines Tages die Lust das unschöne Gesicht verklärt hatte, so war es nicht O zuliebe gewesen. Denn O liebte es leidenschaftlich, diesen Schleier über die Gesichter ziehen zu sehen, der sie so glatt und jung macht; ihnen eine zeitlose Jugend verleiht, sie nicht in die Kindheit zurückversetzt, sondern die Lippen schwellt, die Augen vergrößert wie Kohle, und die Iris schimmernd und klar macht. Dabei war mehr Bewunderung als Eigenliebe im Spiel, denn die Verwandlung rührte sie nicht deshalb so sehr, weil sie selbst sie bewirkt hatte: in Roissy empfand sie die gleiche Ergriffenheit vor dem entstellten Gesicht eines Mädchens, das einem Unbekannten ausgeliefert war. Die Nacktheit, die Hingabe des Körpers, erregten sie und es schien ihr, als machten ihre Freundinnen ihr ein Geschenk, für das sie ihnen nie genug danken konnte, wenn sie sich nur bereitfanden, sich nackt in einem verschlossenen Zimmer anschauen zu lassen. Denn die Nacktheit in den Ferien, in der Sonne und am Strand, ließ sie kalt - nicht etwa, weil sie sich dort öffentlich zeigte, sondern weil diese Öffentlichkeit und die Unvollständigkeit ihr einen gewissen Schutz gewährten. Die Schönheit der anderen Frauen, die sie großzügigerweise stets über ihre eigene zu stellen bereit war, bestärkte sie im Glauben an ihre eigene Schönheit, in der sie, wenn sie sich in ungewohnten Spiegeln betrachtete, den Widerschein der fremden Schönheit entdeckte. Die Macht, die sie ihren Freundinnen über ihre Person einräumte, versicherte sie zugleich ihrer eigenen Macht über die Männer. Und sie war glücklich und fand es nur natürlich, daß die Männer so stürmisch von ihr forderten, was sie von den Frauen forderte (und ihnen nicht zurückgab oder nur zum kleinsten Teil). Auf diese Weise war sie zugleich und ständig Komplizin der einen wie der anderen und gewann in beiden Spielen. Es gab schwierige Partien. Daß O in Jacqueline verliebt war, nicht mehr und nicht weniger, als sie in viele andere verliebt gewesen war und vorausgesetzt, daß der Ausdruck verliebt (was reichlich viel gesagt war) zutraf, unterlag keinem Zweifel. Doch warum zeigte sie es nicht?
Als die Knospen an den Pappeln der Kais aufsprangen, als der Tag länger zögerte, bis er unterging, und den Liebespaaren erlaubte, sich nach den Bürostunden in die Gärten zu setzen, glaubte sie sich endlich stark genug, es mit Jacqueline aufzunehmen. Im Winter war sie ihr zu unbesiegbar erschienen, zu schillernd, unberührbar, unzugänglich unter ihren frostigen Pelzen. Jacqueline wußte es. Der Frühling bot ihr nur Kostüme, flache Schuhe, Pullover. Mit ihrem kurzgeschnittenen, glatten Haar sah sie schließlich aus, wie eines der kecken Schulmädchen, die O mit sechzehn Jahren, als sie ebenfalls noch ins Lyzeum ging, an den Handgelenken gepackt und schweigend in eine leere Garderobe gezerrt, gegen die aufgehängten Mäntel gedrängt hatte. Die Mäntel fielen von den Haken. O wurde von einem Lachanfall geschüttelt. Sie trugen Uniformblusen aus Kattun, ihre Initialen waren in roter Baumwolle auf die Brusttasche gestickt. In drei Kilometern Entfernung hatte die um drei Jahre jüngere Jacqueline in einem anderen Lyzeum die gleichen Blusen getragen. O erfuhr es eines Tages zufällig, als Jacqueline für Hausmäntel Modell stand und seufzend sagte, wenn man im Internat wenigstens so hübsche Hausmäntel gehabt hätte, wäre man glücklicher
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