Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
zurücktrat, während sie hindurchging; er war genauso bleich, wie sie. Wie ein Blitz durchzuckte sie die Gewißheit, daß er sie liebte. Wie ein Blitz erlosch sie wieder. Doch obwohl sie nicht daran glaubte, sich selbst verlachte, war ihr dieser Gedanke ein Trost und sie entkleidete sich gehorsam auf seinen Wink. Und zum ersten Mal, seit er sie zwei-, dreimal in der Woche kommen ließ - wobei er sich immer Zeit nahm, sich ihr zu nähern, sie oft eine Stunde nackt warten ließ, ihr Flehen anhörte, ohne jemals darauf zu antworten, denn sie flehte ihn zuweilen an, zur gleichen Zeit die gleichen Befehle wiederholte, wie nach einem Ritual, so daß sie genau wußte, wann ihr Mund ihn berühren mußte, wann sie ihm, auf den Knien liegend, den Kopf in die Seide des Sofas gepreßt, nur ihre Lenden bieten durfte, deren er sich nun bediente, ohne O zu verletzen, so sehr hatte sie sich ihm geöffnet - zum ersten Mal und trotz der Furcht, die sie zersetzte oder vielleicht dank dieser Furcht, trotz der Verzweiflung, in die Renés Verrat sie gestürzt hatte aber vielleicht auch gerade dank dieser Verzweiflung gab sie sich völlig hin. Und ihre willigen Augen waren so zärtlich, als sie Sir Stephens hellem, brennendem Blick begegneten, daß dieser zum ersten Mal plötzlich mit ihr französisch sprach und sie du nannte: "O, ich werde dich knebeln, weil ich dich bis aufs Blut peitschen möchte, sagte er. Erlaubst du es mir? - Ich gehöre Ihnen", sagte O. Sie stand in der Mitte des Salons, ihre erhobenen und zusammengebundenen Hände, die von den Armreifen aus Roissy und einer Kette an dem Ring festgebunden waren, an dem früher ein Lüster von der Decke hing, ließen ihre Brüste vorspringen. Sir Stephen berührte ihre Brüste, küßte sie dann, dann küßte er Os Mund, einmal, zehnmal. (Er hatte sie noch nie auf den Mund geküßt.) Und als er ihr den Knebel einsteckte, der ihren Mund mit dem Geschmack von feuchter Leinwand füllte, ihr die Zunge bis in den Schlund zurückschob und in den ihre Zähne kaum beißen konnten, faßte er sie sanft bei den Haaren. Sie schwankte auf ihren nackten Füßen, die Kette hielt sie im Gleichgewicht. "O, verzeih mir", flüsterte er (noch nie hatte er sie um Verzeihung gebeten), dann ließ er sie los und schlug zu.
Als René nach Mitternacht zu O kam, nachdem er allem die Veranstaltung besucht hatte, zu der sie gemeinsam hatten gehen wollen, fand er sie im Bett, zitternd im weißen Nylon ihres langen Nachthemds. Sir Stephen hatte sie selbst nach Hause und zu Bett gebracht und sie noch einmal auf den Mund geküßt. Sie sagte es René. Sie sagte ihm auch, daß sie nicht mehr den Wunsch verspüre, Sir Stephen nicht zu gehorchen und sie wußte sehr gut, daß René daraus den Schluß zog, die Peitsche sei notwendig und angenehm für sie, was auch stimmte (aber nicht der einzige Grund war). Zudem war sie überzeugt, es sei auch für René notwendig, daß sie die Peitsche bekam. So sehr er es verabscheute, sie selbst zu schlagen - er hatte sich nie dazu entschließen können - so sehr liebte er es, zuzusehen, wie sie sich unter den Schlägen wand, zu hören, wie sie schrie. Ein einziges Mal hatte Sir Stephen sie vor René mit dem Reitstock geschlagen. René hatte O über den Tisch gelegt und sie so festgehalten, daß sie sich nicht bewegen konnte. Ihr Rock war herabgeglitten: er hatte ihn wieder hochgeschlagen. Vielleicht lag ihm noch mehr an dem Gedanken, daß O, während er nicht bei ihr war, während er spazieren ging oder arbeitete, sich unter der Peitsche wand, stöhnte und weinte, um Gnade bettelte und sie nicht erhielt - und wußte, daß dieser Schmerz und diese Demütigung ihr durch den Willen ihres Geliebten zugefügt wurden und zu seiner Lust. In Roissy hatte er sie von den Dienern peitschen lassen. In Sir Stephen hatte er den unbarmherzigen Gebieter gefunden, der er selbst nicht sein konnte. Die Tatsache, daß der Mann, den er auf der Welt am meisten bewunderte, an O Gefallen fand und sich der Mühe unterzog, sie gefügig zu machen, steigerte Renés Leidenschaft für sie, das sah O genau. Jeder Mund, der sich auf ihren Mund gepreßt hatte, jede Hand, die ihre Brüste und ihren Leib berührte, jedes Geschlecht, das in sie eingedrungen war, sie alle, die so eindeutig den Beweis erbrachten, daß sie prostituiert wurde, hatten zugleich den Beweis erbracht, daß sie dessen würdig war, hatten sie in gewisser Weise geheiligt. Aber das alles galt in Renés Augen nichts im Vergleich zu dem Beweis, den
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