Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
dass es eine solche Identität nur geben konnte, wenn eine Grenze Freund und Feind trennte, uns und sie, ganz gleich, ob beide auf ein und demselben Territorium lebten oder nicht. Am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch hatte es die Politik oftmals mit Menschen zu tun, die Selbstidentifikation und Loyalität mit mehr als nur einem Territorium empfanden, mit Gemeinschaften, die wir als Diasporas bezeichnen. Gleichwohl hätte Schmitt die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, mit denen wir alle heute leben, als Beleg für den Realismus betrachtet, der seinen Ansichten zugrunde lag. Demokratien, so hätte er behauptet, würden den Staat benötigen, denn ihre Bürger seien beherrscht von der Gefahr, die alle Außenseiter und nicht nur Terroristen darstellten.
Wir haben diese Geschichte des modernen Staates in den 1870er Jahren am Little Bighorn begonnen, bei Völkern, die sich eine plastische Vorstellung von dem Territorium, von dem Land bewahrten, das ihnen gehörte, aber über keine genau definierten Grenzen verfügte; und wir schließen mit der Beschwörung von Gemeinschaften, die man als post-territorial bezeichnen könnte. «Bürger über Grenzen hinweg?» Wie aber könnte eine Regierung für solche transnationalen Gemeinschaften aussehen? Vielleicht ließe sich die Demokratie reduzieren auf Menschenrechte plus Experten. Informationen im Netz, private Akteure wie die Medien oder Google könnten eine größere öffentliche Rolle spielen. Doch die gegenwärtige Welt verfügt noch immer über Institutionen, die kollektiv den gesamten Globus erfassen, Wahlen abhalten, Streitkräfte unterhalten, Bündnisse eingehen und den Handel oder die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren versuchen.
Der Begriff der Governance, der sich Ende des 20. Jahrhunderts so großer Beliebtheit erfreute und Sozialwissenschaftler sowie Stiftungen bis heute fasziniert, zeugte und zeugt von der Hoffnung auf eine Regierung ohne «Staatlichkeit» – als könnte Politik künftig der Aufgabe enthoben sein, Präferenzen zu bündeln und sich schließlich für die eine oder die andere zu entscheiden, und stattdessen über Konsens und die Macht der rationalen Diskussion funktionieren. Man solle doch staatliche Stellen wie etwa Gerichte und Regulierungsbehörden auflösen und in «globale Regierungsnetzwerke» einbinden, so lautete eine Forderung, und am Ende habe man dann in Wirklichkeit eine gestärkte Staatsmacht. Stiftungen, Universitätseliten, Sozialwissenschaftler, gutmeinende Männer und Frauen liebten diese Idee der Governance – sie versprach eine transparente und sich selbst legitimierende Administration ohne Staatlichkeit und ohne Tränen.[ 183 ] Governance war die Utopie der akademischen Verwaltungselite.
Kein Historiker kann die Zukunft (ob im Singular oder im Plural) vorhersehen. Im Wettstreit liegende Nationen und Imperien – zu denen nun unter anderem auch die asiatischen Mächte gehören – lassen vielleicht alte Rivalitätsmuster wieder aufleben, die eine Stärkung staatlicher Strukturen bedeuten. Regionalen Zusammenschlüssen wie der Europäischen Union könnte eine größere Rolle zukommen. Gegenwärtig haben Staaten offenbar keinen besonders guten Ruf. Die Verantwortlichen an ihrer Spitze, ob nun Tyrannen oder Zwangsbürokraten, halten es für nötig, zu klassifizieren, zu quantifizieren und zu kontrollieren. Doch wie Hobbes und Hannah Arendt auf je unterschiedliche Weise betont haben, bedeutete Staatenlosigkeit oft das schlimmere Schicksal: Staaten schützten verwundbare Individuen und Gemeinschaften. Sie boten den rechtlichen Rückenpanzer für die menschlichen Geschöpfe mit ihren weichen Körpern, die den Grausamen und den Räuberischen oder einfach nur den Profitgierigen oder Eifernden schutzlos ausgesetzt waren. Macht und Gewalt verschwinden nicht, wenn Staaten kraftlos sind; sie werden vielmehr ohne gesetzliche Beschränkungen ausgeübt. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Gaza oder in Darfur staatenlos zu sein war alles andere als eine beneidenswerte Situation.
Zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich Staaten auf vielfache Weise neu organisiert und strukturiert: Sie hatten um ein zusammenhängendes Territorium gekämpft, sich die Mittelschicht verpflichtet, das Staatsgebiet konsolidiert, «Nomadenvölker» oder Stämme unterjocht und sich in beispiellosen Kriegen gegenseitig bekämpft. Sie hatten mit revolutionären Parteien experimentiert, deren Mitglieder von Visionen gewaltsamer
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