Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
vereinfachende Redeweise vom «globalen Dorf» kritisiert. Menschen werden während ihrer Kindheit und Adoleszenz in Familie, lokaler Gesellschaft und regionalen und landesweiten Bildungsinstitutionen in den Raum und die Wertesysteme ihres Geburtsortes hineinsozialisiert. Sich in ihrem späten Teenageralter vom elterlichen Haushalt trennend, suchen sie in der Regel in der ihnen vertrauten Region oder in anderen Regionen, die ihnen durch Informationsrückmeldungen zugänglich sind, nach Arbeitsplätzen (oder bestellbarem Land) oder beruflichen Optionen. Vielleicht müssen sie landesweite Arbeitsmärkte und -vorschriften berücksichtigen. Somit bilden das Lokale, das Regionale und das Landesweite die drei aufeinanderfolgenden Schichten von Sozialisierung und Erfahrung. Die wirtschaftliche Sphäre, in der sie nach einer auskömmlichen Beschäftigung suchen, endet nicht unbedingt an den Grenzen ihres Geburtsstaates. Mittel- oder Großregionen, die vernetzten Karibik-Inseln oder die europäische Landmasse zum Beispiel sind durch Straßen, Eisenbahnen und Schiffsverbindungen zugänglich. Folglich müssen Wissenschaftler auf empirischem Wege die Größe von Migranten-Geographien, -Räumen und - scapes ermitteln. Im Kontext von 1870 ist es zum Beispiel nicht sinnvoll, von typischen «europäischen» Migranten zu sprechen: Die Migranten aus den westlichen und westlich-zentralen Regionen Europas waren seit Generationen in bestimmte, weit entfernte Zielräume gewandert und hatten diese in mentalen Karten miteinander verknüpft; diejenigen aus den südlichen Segmenten waren in andere Gebiete gezogen und hatten ihre spezifischen Informationsflüsse etabliert; die aus nördlichen Regionen waren relative Neulinge auf den ozeanischen Weiten. In ähnlicher Weise verlagerten sich die Rekrutierungsgebiete für Schuldknechte und die Ausreiseregionen von Migranten in Indien im Lauf der Zeit – sie expandierten und kontrahierten genauso wie die Zielgebiete. Für jede Periode müssen Migrationsräume und ihre mikro-, meso- oder makroregionale Ausdehnung abgegrenzt werden, da soziale Geographien im Fluss sind.[ 43 ]
Begrifflich gesehen, unterscheidet die Forschung zwischen zwischenstaatlichen («inter») und grenzüberschreitenden («trans-border»)Wanderungen. Das «inter» setzt zwei verschiedene Einheiten voraus, für gewöhnlich Staaten wie bei «international»; das «trans» betont Kontinuitäten und überlappende Räume. Die faktische Richtigkeit der jüngsten Konzeptualisierung von «transnational» muss hinterfragt werden. In seiner ursprünglichen Formulierung wurde «transnational» auf Migranten seit den 1990er Jahren angewandt, eine Zeit, in der Nationalstaaten einen Teil ihres prägenden Einflusses auf gesellschaftliche Entwicklungen und einen Großteil ihrer Macht über Volkswirtschaften verloren. Im späteren 19. Jahrhundert stammten die meisten Migranten nicht aus Nationalstaaten, sondern aus Reichen – dem Qing-, dem Romanow-, dem Habsburger-, dem Hohenzollern- und dem Vereinigten Königreich, die zu nationalen Kürzeln für China, Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland und Großbritannien wurden –, obgleich jedes einzelne viele Völker enthielt und das Habsburgerreich sich sogar selbst einen «Vielvölkerstaat» nannte.
Der Begriff «transkulturell» ist ein umfassender Oberbegriff für Bewegungen zwischen Gesellschaften, unabhängig von der zurückgelegten geographischen Entfernung: translokal, transregional, transnational oder transstaatlich, transozeanisch. Während Ideologen des Nationalstaates – Historiker eingeschlossen – behaupteten, Migration vollziehe sich aus einer Nation in eine ethnische Enklave in einer anderen Nation, reisten 94 Prozent der Migranten europäischer Abstammung, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten eintrafen, von ihrem Geburtsort oder einem früheren Migrationsziel zu Freunden und Verwandten an einen bestimmten Ort in den Vereinigten Staaten. Sie wanderten in verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerken zwischen städtischen Vierteln oder Dörfern und, im Rahmen von Familienökonomien sowie individuellen Bestrebungen, zwischen mesoregionalen oder nationalen Ökonomien. Selbstbestimmte Migrationen und die Rekrutierung von Schuldknechten verbanden ebenfalls bestimmte Regionen Indiens und Chinas mit bestimmten Regionen und Orten im Plantagengürtel. Ein neuerer Ansatz nennt solche Migrationen «glokal» – und verknüpft lokale soziale Räume in
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