Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
somit ein aktiver Bestandteil im Leben der Bürger.
Doch der Wohlfahrtsstaat in seiner nordamerikanischen, westeuropäischen, auch im British Dominion gültigen Variante war nur einer von drei vorherrschenden Staatstypen. So bildete die «sozialistische Welt», in der fast das gesamte BIP durch staatliche Hände ging (ausgenommen waren mitunter lokaler Anbau im Garten oder Handwerkstätigkeiten), in den 1950er und 1960er Jahren ein alternatives und offenkundig noch immer lebensfähiges Modell. Der Staatssozialismus setzte weniger auf Terror, auch wenn Dissidenten nicht wirklich geduldet waren. Die Staaten wurden zusehends bürokratischer, und die wirtschaftlichen Energien, über die sie verfügten, flossen weitgehend in militärische Neuerungen. Doch die Sowjetunion benötigte einen gut doppelt so hohen staatlichen Ausgabenanteil (etwa 40 Prozent des Budgets und bis zu 20 Prozent des BIP) wie die USA, um eine gefürchtete Atommacht zu bleiben. Die Krise dieses Systems ist ebenfalls Teil einer späteren Geschichte. Die Staaten der so genannten «Dritten Welt», die nach Entwicklung strebten, verfolgten unterschiedliche Strategien. Für Indien blieb das Modell des Staatssozialismus durchaus attraktiv (auch wenn man dort die dörfliche Autonomie bewunderte, die Mahatma Gandhi so sehr gepriesen hatte). Andere Staaten bedienten sich nicht konsequent bei fremden Modellen, doch in den meisten von ihnen stellten wichtige Industriesektoren in Staatsbesitz bis in die 1970er Jahre eine attraktive Variante dar, etwa im Bereich des Erdöls im Falle Mexikos, Brasiliens sowie des Nahen und Mittleren Ostens. Japan hingegen – und zwei Jahrzehnte später auch andere ostasiatische Staaten – setzte darauf, ungeheuer viel Arbeit in technisch fortgeschrittene Konsumwaren zu stecken, vor allem Autos und später Elektronikartikel. Familiennetzwerke waren dort weiterhin wichtig als eine Art Bindegewebe zwischen den am weitesten entwickelten Allianzen von Banken und Produzenten.
Was den politischen Apparat angeht, so blieb als drittes Staatsmodell, das neben dem renormalisierten Wohlfahrtsstaat westlicher Provenienz und dem scheinbar stabilen Einparteienstaat der sozialistischen Welt gedieh, weiterhin die Militärherrschaft. Überall in Asien, Afrika und Lateinamerika kam es häufig und immer wieder zu Regierungen der Generäle. Seit der Antike waren Soldatenherrscher eine verbreitete Regierungsform, ob mit oder ohne Imperium, und gerechtfertigt wurde sie stets damit, dass ein Notstand das Eingreifen des Militärs erfordere. Wie wir gesehen haben, waren Armeen oft die logischen Gewinner eines Revolutionsprozesses, wenn die Zivilisten sich nicht einigen konnten. War die zivile Führung korrupt oder gelähmt, dann musste die Armee als bester und engagiertester Kern der Gemeinschaft eingreifen. Militärische Organisationen waren ihrem Wesen nach nicht-demokratisch, sie beruhten auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, unterstanden mitunter ziviler Kontrolle, waren jedoch oft der Ansicht, sie dienten Staat und Nation besser als die korrupten Zivilisten, die sie aus dem Amt jagten (oder einsperrten oder gelegentlich auch exekutierten). Mitunter griffen die Generäle oder Offiziere ein und gaben die Macht dann wieder an eine zivile Führung ab, doch war es einmal passiert, so stand eine erneute Intervention stets als Drohung im Raum. Die Entstehung des pakistanischen Staates durch Teilung 1947 sollte die militärischen Kasten aus dem Nordwesten des Raj versammeln und ihnen ein eigenes Gebiet verschaffen – das vom stammesgeprägten Hochland bis zu pulsierenden Städten an der Küste oder am Indus reichte –, in dem sie wiederholt intervenierten.
Eines der überzeugendsten Modelle dieser Herrschaftsform hat Atatürk mit seiner säkularen und sich modernisierenden Republik in den 1920er und 1930er Jahren geschaffen. Und obwohl die türkische Armee nach seinem Tod die Kontrolle über das Land abgab, griff sie doch in den 1960er Jahren verschiedentlich ein, wenn sie die Prinzipien seines säkularen nationalistischen Staates (und die eigene Rolle darin) gefährdet sah. In Osteuropa übernahm das Militär in den 1930er Jahren in Polen, Griechenland, Rumänien und im Baltikum die Macht. Der thailändische Monarch legte sein Schicksal 1932 in die Hände der rettenden Militärs, und die Armee des Landes mischte sich auch später häufig in Regierungsangelegenheiten ein. General Franco regierte Spanien nach seinem Staatsstreich und dem Sieg im
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