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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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von ihrer mobilitäts-behindernden oder -erleichternden Wirkung, für Migranten keine große Relevanz. Was zählt, ist die Aufladung bestimmter Orte mit Bedeutung, etwa «Heimat» oder «bessere Daseinschancen», und wie Gesellschaften, die als freiheitsbeschränkend erlebt werden, mit anderen verbunden sind, von denen man annimmt – oder weiß –, dass sie bessere Optionen bereitstellen. Geographische Orte werden so zu erlebten sozialen Räumen und -scapes (-schaften, also ethnoscapes, mediascapes usw.), um den von Arjun Appadurai geprägten Terminus zu gebrauchen. Jenseits der Verräumlichung der physischen Geographie durch das Gesellschafts- und Wirtschaftsleben ist eine Landschaft ein Erfahrungsraum, der mit Bedeutung aufgeladen ist, eine festgelegte Geographie in flexiblen Interpretationsrahmen. Die Schriften von Migranten zeigen, wie eine Person, die ihren Geburts- und Sozialisierungsraum verlässt, neue Landschaften oder Schifffahrtsstraßen in den vertrauten Bezugsrahmen für Geographien einordnet oder, wenn sie sich nicht darin einfügen lassen, diese als «eigenartig», «fremd» oder «exotisch» beschreibt, statt den Bezugsrahmen zu erweitern oder zu verändern.
    Ein italienischer oder chinesischer Migrant zum Beispiel, der ein tief im Landesinneren gelegenes bäuerliches Besitztum verlässt, wird die erste Etappe der Reise – zu Fuß, auf einem Karren oder einem Tragtier – als langsam erleben. Das geschäftige Treiben am Hafen wird ihm ungewohnt, hektisch und rätselhaft vorkommen. Die Reise über den Atlantik oder das Chinesische Meer wird, zumindest in der Erinnerung, kurz sein, da nichts Interessantes zu vermerken ist. Was für Seeleute eine Schifffahrtsstraße ist, ist für einen ländlichen oder städtischen Migranten eine riesige leere Weite. Wenn er oder sie aus Genua kommend in New York eintrifft, wird er die Hochbahnzüge sehen und Freunden und Angehörigen in der Heimat berichten, dass Züge über die Dächer von Häusern fahren. Die Empfänger können eine derartige Information nur schwer in ihren vertrauten Bezugsrahmen einordnen: «zu Hause» fliegen nur Vögel über Dächer. Wenn Kaufleute aus Guangdong in Manila eintrafen, besaßen sie mentale Karten, die die Handelshäfen miteinander verbanden, und Handwerker befassten sich mit Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen ihren Vierteln. Geographien und ihre sozialen Sitten und Gebräuche entstehen in den Köpfen von Menschen und erscheinen als umfassende Landschaften. Da sich das mentale Verständnis und die Aneignung von Räumen fortwährend verändern, haben Wissenschaftler das Konzept «prozessualer Geographien» eingeführt, um der traditionellen Vorstellung fester Orte entgegenzutreten.[ 41 ]
    Für Migrationshistoriker wie für Historiker, die sich mit der Bewegung von Waren beschäftigen, spielen Transportverbindungen zwischen verschiedenen Räumen eine genauso große Rolle wie für Migranten und Kaufleute. Diese Vernetzung wurde in nationalstaatlich fokussierten, historischen Top-down-Ansätzen ebenso übersehen wie in den Sichtweisen von Staatsmännern und Historikern, die selbst keine Migrationserfahrung haben. Staats-orientierte Ansätze fügten festen Geographien unverrückbare territoriale Grenzen bei, und in der nationalstaatlichen Version führen sie überdies als dritte feste Trennlinie die Grenzen der nationalen Kulturen ein. Nationalstaatliche Historiographien grenzen sich von benachbarten Gemeinschaften und Gesellschaften oder von fernen Verbunden ab. Wenn laut Adam McKeown zwischen den 1840er und den 1940er Jahren etwa 150 Millionen Männer und Frauen in den drei großen Migrationssystemen wanderten, insgesamt 320 Millionen in Fernwanderungen über internationale Grenzen, und außerdem Hunderte von Millionen in Mittelwanderungen über internationale Grenzen, dann müsste die nationalstaatliche Historiographie diese genauso in ihre Narrative aufnehmen wie globale Wirtschaftssektoren. Wo wurde die Baumwolle, die Staatsmänner und gewöhnliche Bürger gleichermaßen für ihre Kleidung benötigten, angebaut, wie wurde sie transportiert und wo wurde sie verarbeitet? Was taten Plantagen-, Bergbau- und Fabrikarbeiter und Investoren und ihre Aufseher, Büroangestellten und Techniker, um die Nachfrage nach Tuch oder, an Fürstenhöfen, nach Luxusgütern zu befriedigen?[ 42 ]
    Um der Vernetzung Rechnung zu tragen, haben Wissenschaftler die Verdinglichung trennender Grenzen, die Vagheit des Ausdrucks «globale Weiten» und die

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