Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
wiederbelebten Staaten installierte neue Kommunikationssysteme, neue Formen der Dokumentation, der Landnutzung, des Landbesitzes und der Besteuerung, neue Technologien, Waffen, Behörden, Gesetze und rassistische Rechtfertigungen, womit sie ihr Interesse an Methoden der Gouvernementalität bekundete. Im Bestreben, das Verhältnis zwischen dem Staat und dem «Sozialen» zu definieren, richteten sie ihr Augenmerk auf den Arbeitsmarkt, auf Bildung, Gesundheit und sanitäre Einrichtungen, auf kulturelle Verbesserung und oftmals auf damit zusammenhängende Imperialmissionen sowie auf die technologischen Innovationen, die ihre wirtschaftliche wie ihre militärische Potenz stärken sollten. Verschiedene Arten von kulturellem Nationalismus schufen gemeinsam Loyalitäten und hielten sie aufrecht. Um die Jahrhundertwende führte das Interesse an moderner Staatlichkeit zu einer weltweiten Welle an Revolutionen: in China, Russland, Iran, in der osmanischen Türkei und in Mexiko. Zwar waren diese Revolutionen geographisch weit voneinander entfernt und verliefen ganz unterschiedlich, doch richteten sie sich allesamt «gegen Autoritäten, die in ihren Augen eine Mitschuld trugen an nationaler Abhängigkeit oder gar Demütigung». Alle versuchten eine Art parlamentarischer Regierung zu errichten und sprachen dem Staat eine positive Rolle zu. Selbst Monarchien wie die in Thailand und Äthiopien machten sich angesichts der allgemeinen Entwicklung schon bald ebenfalls an eine Modernisierung des Staates. Maier warnt jedoch davor, die Macht des Staates überzubewerten. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Steuereinnahmen gering, und die wirkliche Regierungsmacht, sowohl in Imperien wie auch auf dem Land, lag ganz oder teilweise bei lokalen Honoratioren und privaten Autoritäten.
Besonders kompliziert wurde das Problem der Repräsentation im modernen Staat durch ethnische, rassen-, klassen- und geschlechtsspezifische Spaltungen. Wer sollte dazugehören und zu welchen Bedingungen? Wie sollte das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft gestaltet sein? Das Wirtschaftswachstum verschärfte dieses Repräsentationsdilemma oft noch, statt es abzumildern. Und auch das Aufkommen des Nationalismus in den Kolonien sowie die Schwächung der Kolonialimperien sorgten für neue Spannungen: Wer hatte das Recht (oder die Macht), ein nationales oder imperiales Organ zu konstituieren? Die Fesseln staatlicher Disziplin in modernen Staaten und Imperien konnten manchen befreiend erscheinen, während sie auf andere ausschließend und erdrückend wirkten.
Die Wirren des Ersten Weltkriegs und die Wirtschaftskrise, die sich in den 1930er Jahren immer weiter verschärfte, erwiesen sich zusätzlich als fruchtbarer Boden für neue autoritäre Formen von Staatlichkeit: Bolschewismus und Faschismus. Die Sowjetunion richtete einen Einparteienstaat ein, der als Inbegriff des Internationalismus und des proletarischen Kollektivismus gerechtfertigt wurde, aber auf Terror basierte. Der Faschismus, zunächst in Italien, aber deutlich aggressiver in Deutschland, begründete seinen Autoritarismus mit dem gesellschaftlichen Nutzen des Krieges für die Erneuerung der Menschheit. Der Nationalsozialismus verschmolz das kriegerische Element mit Visionen von einem ethnisch-rassisch definierten Staat. Die zentralisierte Macht in diesen außergewöhnlichen Hyperstaaten beruhte nicht auf Individuen mit unveräußerlichen Rechten, sondern auf speziellen Polizeikräften, die Verpflichtungen auferlegten und die Trennlinien zwischen nationaler Inklusion und Exklusion brutal durchsetzten. Ende der 1930er Jahre, als der liberale Kapitalismus überall in der Krise war, hatte es den Anschein, als weise der Impuls der Geschichte in Richtung solch «disziplinierter Kollektive», die den Krieg verherrlichten und Abweichler ermordeten.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren mehrere Varianten des modernen Staates übrig geblieben: der «Wohlfahrtsstaat», der zum Zwecke sozialen Ausgleichs und wirtschaftlichen Wachstums auf staatliche Planung setzte; Einparteienstaaten mit sozialistischen Regierungen, die Merkmale des sowjetischen Modells übernahmen; und Regierungen, die von modernisierungsorientierten Militärinstitutionen beherrscht wurden und vor allem in Lateinamerika, Asien und im Nahen Osten zu finden waren. Ab den 1970er Jahren standen all diese Formen moderner Staatlichkeit in einem wachsenden Spannungsverhältnis zu den Veränderungsimpulsen der «Globalisierung», zu denen vor allem
Weitere Kostenlose Bücher