Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
zeigt, wie Bevölkerungsströme vom Kolonialismus, den sich verändernden Wirtschaftsbeziehungen und den Bestrebungen der Menschen, die oft in sehr beengten Umständen gefangen waren, beeinflusst wurden. Die Migration innerhalb wie zwischen Regionen und Imperien sorgte dafür, dass sich Bevölkerungen mischten und dass neue Kategorien und Methoden sozialer Schichtenbildung entstanden. Deutlich wird aber auch, wie sehr Migrationsentscheidungen und -erfahrungen geschlechtsbedingt waren (was auch für diejenigen gilt, die nicht weggingen) und wie sehr sie von Einkommen, rassistischen Zuschreibungen und Ethnizität abhingen.
Das Kapitel beschreibt überdies die Flüchtlingsströme, die durch die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und die beiden Weltkriege ausgelöst wurden. Dazu gehört auch die Migration von Intellektuellen, die eine globale Kritik an Kolonialismus und Rassismus einleitete. Hoerders Darstellung lässt somit einige der Vertreibungen und Migrationen erahnen, die sich bis in spätere Jahrzehnte jenseits unseres Zeitraums erstrecken sollten.
Migrationsgeschichte, so Hoerder, kann sich freilich nicht in der Beschreibung einiger exemplarischer Erfahrungen erschöpfen. Geschichten über Migration gibt es viele, und sie sind in hohem Maße kontingent. Innerhalb dieses globalen, historisch ausgerichteten Überblicks über unsere Epoche liefert er deshalb einen analytischen Rahmen von Begriffen und Kategorien, innerhalb dessen sich die Mobilitäten und Einschränkungen, die das Leben des Einzelnen prägten, verstehen lassen. Er verwahrt sich gegen häufig verwendete, aber zu enge Kategorien wie «frei» und «unfrei» und gegen Wörter wie «Identität» und «Assimilation». Vielmehr rückt seine Interpretation die «prozesshaften Strukturen» in den Mittelpunkt, in denen Männer wie Frauen ihr Leben lebten, und betont die komplexen Variablen, die bei der Akkulturation und bei den Prozessen, in deren Verlauf sich «Zugehörigkeit» herausbildet – also wie sie offeriert, vorenthalten und übernommen wird –, eine Rolle spielen. Migranten schlossen Kompromisse mit neuen Umgebungen: Sie versuchten Dinge zu behalten, die ihnen schon in der Vergangenheit wichtig waren, und sich von dem zu trennen, was sie zurücklassen wollten. So gesehen stellen Migrationsbewegungen die Vorstellung in Frage, Staaten oder Kulturen könne man als abgeschlossene Gebilde betrachten, denn Menschen, die unterwegs sind, «werden mit mehr als nur einer Lebensweise vertraut». Dirk Hoerders Kapitel leistet somit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Bevölkerungsbewegungen in dieser Zeit, denn mit Hilfe seines «Systemansatzes» berücksichtigt er die unterschiedlichen Bedingungen von Abreise, Unterwegssein und Ankunft.
Das Kapitel von Steven C. Topik und Allen Wells befasst sich mit Waren in Bewegung. Als Handel und Finanzwesen die Welt enger vernetzten, verbanden Warenketten Produzenten, Verarbeiter, Transporteure und Käufer miteinander. Zeichnet man diese Ketten nach, so eröffnet das innovative Möglichkeiten, die enorme Vielfalt an Märkten zu verstehen und den wirtschaftlichen Aufstieg und Niedergang verschiedener Regionen in der vernetzten Welt zu erklären. Nicht ohne Grund stehen die umfassenden Agrarrevolutionen dieser Zeit mit im Zentrum der Geschichte dieser Warenketten. Landwirtschaftliche Produkte machten den Großteil des Welthandels aus und öffnen damit ein Fenster zu unzähligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen überall auf der Welt.
Richtet man den Blick auf die globalen Ströme einiger der wertvollsten Handelsgüter dieser Welt, wird deutlich, inwiefern technologische Innovationen der Epoche zugleich die landwirtschaftliche und die industrielle Produktion veränderten. Außerordentliche Steigerungen bei der Nahrungsmittelproduktion, deren Waren mit effizienteren Verkehrssystemen befördert wurden, versorgten die wachsenden Städte und die dortigen Arbeitskräfte. Ähnlich sorgte das industrielle Leben in den Städten für eine immer größere Nachfrage nach erschwinglichen Agrarprodukten von nahen und fernen Feldern.
Der Beitrag zeigt die Dimension des materiellen Wandels: Revolutionen im Verkehrs- und Finanzwesen begleiteten zusammen mit neuen Unternehmensformen und Oligopolen die Ausweitung bestimmter Industrie- und Agrarsektoren; die Eisenbahn und später dann die Automobilindustrie sorgten dafür, dass die Produktion von Treibstoffen wie Kohle und Benzin und von neuen wichtigen
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