Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
seit 1848 die eigentlichen Entscheidungen getroffen wurden) 35 Sitze errang, in der Koalition neben den amorphen liberalen Gruppen einen Platz für sich zu beanspruchen. Im Herbst 1922 schien er zum unverzichtbaren Partner der konservativeren Gruppierungen der lockeren Koalition geworden zu sein, die sich selbst immer noch als «liberal» bezeichnete, und er drohte damit, die gleiche quasi aufständische Bewegung, die seine Gefolgsleute im Norden installiert hatten, auch auf den Süden des Landes auszudehnen.
Mussolini und seine Sympathisanten sorgten mit ihren Vorbereitungen zu einem Marsch der Schwarzhemden auf Rom für eine letzte Krise der liberalen Koalition, in deren Verlauf der König ihn Ende Oktober 1922 zum Ministerpräsidenten ernannte. Zwei Jahre lang regierte er vermeintlich als legaler Regierungschef und ließ im April 1924 Wahlen abhalten, die dank eines geänderten Wahlrechts seinen Anhängern fast zwei Drittel aller Parlamentssitze einbrachten. Doch die inzwischen zur Gewohnheit gewordene revolutionäre Gewalt seiner jugendlichen Truppen ließ sich nicht so leicht disziplinieren, und die jüngeren Radikalen in ihren Reihen befürchteten, Mussolini werde doch nur zu einem weiteren Parteiführer der üblichen Art. Trotz Koalitionsmehrheit drohten die alten Parteien und die Abgeordneten, die ihn unterstützt hatten, damit, das Bündnis aufzukündigen, als enge Gefolgsleute Mussolinis in die Entführung und Ermordung des sozialistischen Oppositionsführers Giacomo Matteotti verwickelt waren, der sich gegen die gewaltsamen Kampagnen ausgesprochen hatte. Als die liberalen Politiker und Journalisten ihn rügten, während seine jungen radikalen Anhänger auf eine «zweite Revolution» drängten, kam Mussolini zu dem Schluss, dass er zwischen seiner Parteibasis oder einer politischen Niederlage wählen musste. Anfang 1925 erließ er Notstandsgesetze, mit denen die Presse kontrolliert und Oppositionsführer inhaftiert werden konnten. Die Dämmerung des Liberalismus von 1922 bis 1924 war beendet.
Im Verlauf der folgenden Jahre richteten die Regimeführer die Institutionen eines faschistischen Staates ein: ein politisches Tribunal, umfassende geheimpolizeiliche Bespitzelung und schließlich Verhaftung der Opposition sowie einen so genannten Großrat, der Funktionäre der faschistischen Partei und Kabinettsminister vereinte und damit vermeintlich den Staat und die einzige Partei mit einander verschmolz. Was Beobachter oftmals als spezifische «Leistung» des faschistischen Staates beschrieben haben (neben seiner angeblichen Fusion mit einer einzigen Partei), war die Ersetzung der funktionalen oder berufsspezifischen Repräsentation im Parlament. Das vollzog sich stufenweise von Mitte der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre. Zwar waren sozialistische und katholische Gewerkschaften marginalisiert, doch gab es eine Tradition faschistischer Gewerkschaften (die wie in Frankreich auch «Syndikate» hießen), die gelegentlich gegen die Arbeitgeber aufbegehrten. Deren Anführer waren aus der syndikalistischen Bewegung der Vorkriegszeit hervorgegangen, wo sie die italienischen Hafenarbeiter organisierten und mitunter in dieser Funktion sogar bis in den Westen der USA gekommen waren, ehe sie mit dem Krieg zurückgekehrt und zu begeisterten Anhängern Mussolinis geworden waren. Ein großer Streik der Stahlarbeiter im Norden erwies sich im Frühjahr 1925 als letzte quasi unabhängige Aktion der Arbeiterschaft unter dem faschistischen Regime. Der Streik wurde beendet; die Arbeitnehmervertreter wurden in einer faschistischen Einheitsgewerkschaft zusammengefasst, deren offizieller Status von den im italienischen Industriellenverband organisierten Arbeitgebern anerkannt werden sollte. Als diese neue Arbeitnehmervereinigung offenbar zu viel Einfluss verlangte, wurde sie drei Jahre später in verschiedene Berufsgruppen aufgespalten. Unterdessen wurden die Vertreter der verschiedenen Industriesektoren sowie der verschiedenen Wirtschaftsbereiche (Dienstleistungen, Medizin, Gastgewerbe, Landwirtschaft und andere) in offiziellen Korporationen organisiert. Diese fusionierten wiederum mit den Vertretern des rechtsgerichteten Nationalistischen Verbandes, die einer juristischen Schule entstammten, welche Konzepte funktionaler Rechtstheorie propagierte. Ihr Vordenker Alfredo Rocco entwarf das politische Tribunal und drängte auf eine Stärkung des Staates.
In vielerlei Hinsicht stand der faschistische Staat in Kontinuität mit den
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