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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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durchaus ernsthafte Denker. Der Faschismus bezeichnete sich ursprünglich als revolutionär und in hohem Maße nationalistisch: von Mussolinis Organisation der «Fasci di combattimento», der faschistischen Kampfbünde, im März 1919 über Hitlers Ruf nach einer nationalen Revolution bis zur Überzeugung der französischen Faschisten, man brauche eine Revolution gegen die bürgerliche Moral. Faschisten und Nationalsozialisten wussten gleichermaßen, wogegen sie waren: mit Sicherheit gegen die organisierten Parteien und die Gewerkschaften aus dem Umfeld der Sozialdemokratie und gegen die liberalen demokratischen Parteien, die im 19. Jahrhundert gegründet worden waren. Gegenüber dem organisierten politischen Katholizismus blieben sie offener, in Deutschland verachteten sie ihn, waren jedoch zu Kompromissen bereit, und in Italien umwarb man die Kirche mit Zugeständnissen in Sachen Bildung und Ehe, mit denen man die Ansprüche des früheren liberalen Staates aufgab.
    Faschismus und Kommunismus lassen sich nicht einfach als feststehende ideologische Lehrgebäude betrachten. Bevor sie an die Macht kamen, gerierten sie sich als revolutionäre Bewegungen. Im Allgemeinen sahen die Faschisten den Bolschewismus als ihren grundsätzlichsten ideologischen Widersacher, doch mitunter arbeiteten die beiden Gruppierungen aus opportunistischen Gründen zusammen, etwa während der Krise der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre. Beide lehnten die Prämissen des politischen Liberalismus, wie sie seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt worden waren, ab. Beide nahmen für sich in Anspruch, bürgerliches Denken und Empfinden hinter sich zu lassen: die Kommunisten zugunsten eines neuen proletarischen Kollektivismus, die Faschisten für eine widersprüchliche Wertemischung, die im «Boden» der Vorfahren ebenso wurzelte wie in den modernen Forderungen nach technischer Innovation.
    Georges Sorel, der französische Theoretiker revolutionärer Gewalt und selbsternannte Verächter des bürgerlichen Humanismus, den er auf die Aufklärung zurückführte, skizzierte vor dem Ersten Weltkrieg eine Regierung von Syndikaten oder Zusammenschlüssen von Produzenten, in denen Kapital und Arbeit in einer Hand vereint waren. Allein der politische Kampf, der nicht zwangsläufig blutig sein müsse und auf dem «Mythos» von Armageddon gründe, könne die Gesellschaft erneuern.[ 160 ] In seinen nach dem Krieg veröffentlichten Werken sollte er Lenin preisen; die italienischen Syndikalisten (von denen einige vor dem Ersten Weltkrieg ihre Zeit damit verbrachten, die Arbeiter im Westen der USA als «Wobblies» – so hießen die Mitglieder der weltweiten Gewerkschaft der Industrial Workers of the World – zu organisieren) und die antidemokratische Rechte sollten Sorel lesen. Doch diese gemeinsame Quelle aus der Vorkriegszeit mochte politische Bewegungen stärken: Auf ihrer Basis einen ganzen Staat aufzubauen erforderte, wie wir noch sehen werden, weitere Ideen und repressivere Instrumente.
    Faschismus wie Bolschewismus legten besonderen Wert auf die Einheitspartei und ihre Massenorganisationen für die Jugend und bedienten sich kultureller Vereinigungen als Mittel, um Macht zu erlangen und auszuüben. Sobald sie jedoch einmal sicher an der Macht waren, setzten ihre Führer auf die alten Verwaltungsorganisationen, die sie eigentlich hatten zerschlagen wollen; sie sollten überdies ihre Parteien so weit disziplinieren, dass sie als Diktatoren immer mehr persönliche Macht beanspruchten, auch wenn sie diese nur sehr inkonsequent einsetzten. Einmal an die Macht gekommen, versuchten beide Parteien die Zivilgesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen, ja, sie behaupteten sogar, sie wollten einen neuen Menschen schaffen. Phasen «normaler» Autorität und der stolzen «Konsensfindung» wechselten mit heftigen Bemühungen, die ursprüngliche Dynamik wieder zum Leben zu erwecken, ob nun mit Parteisäuberungen wie in der Sowjetunion oder durch Vorbereitungen auf nationale Expansion und Krieg wie in Italien und Deutschland. Beide Systeme verherrlichten das große Unternehmen oder Projekt, das in einigen Fällen bloße hohle Theatralik war (wie Mussolinis Marsch auf Rom) und in anderen Fällen wirkliche Veränderungen brachte – man denke an die Trockenlegung der malariaverseuchten Sümpfe rings um Rom, an die deutschen Autobahnen, an die Industrialisierung des Donezbeckens, an Magnitogorsk und die riesigen Staudämme sowie an die Aufrüstungsprogramme in

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