Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
auch als Generalsekretär der KPdSU. Wie im Falle Italiens und Deutschlands häufte der Diktator selbst ein ungeheures Maß an persönlicher Macht an, doch Stalin hätte es nie gewagt, die organisatorische Parteiführung einem anderen Genossen anzuvertrauen, wie das sowohl Hitler als auch Mussolini taten. Der deutsche und der italienische Staatsapparat bewahrten eine gewisse Autonomie und Tradition; schwieriger gestaltete sich das in Russland nach dem Bürgerkrieg und den 1920er Jahren, als das Regime noch immer ältere Beamte rekrutierte, die bereit waren, dem bolschewistischen Regime zu dienen. In der Armee dienten während des Zweiten Weltkriegs neben den befehlshabenden Offizieren auch Parteivertreter, denen oftmals Ablehnung entgegenschlug und die nicht selten hingerichtet wurden, wenn sie in Gefangenschaft gerieten. Potentielle Konkurrenz für den Generalsekretär drohte ebenfalls von Parteiämtern: In den 1920er Jahren war es für eine Weile die Führung der Kommunistischen Internationale, die als Rivale des Volkskommissariats für Auswärtiges auftrat, und später dann zunehmend die Führung der Staatssicherheitsbehörden: der Tscheka, dann der OGPU, des MWD und des NKWD. Das Amt des sowjetischen Staatspräsidenten war eher zeremonieller Natur. Ein parlamentarisches Organ als solches gab es nicht mehr; in der Theorie waren die konstituierende Versammlung und die Duma Teil eines bourgeoisen Staates gewesen, der abgelöst worden war. Gesetzgebende Organe blieben der Parteikongress der KPdSU, das kleinere Zentralkomitee sowie das regierende Politbüro. Die Zusammensetzung des Parteikongresses, der der Papierform nach das höchste Organ war, in Wirklichkeit aber nur die Entscheidungen von Politbüro und Zentralkomitee absegnen sollte, wurde qua Wahl unter den Parteimitgliedern bestimmt. Es erscheint paradox, doch die kommunistischen Staaten schenkten nicht-kompetitiven Wahlen stets große Aufmerksamkeit, denn sie dienten nicht dazu, zwischen alternativen Persönlichkeiten oder politischen Vorstellungen zu entscheiden, sondern die überzeugten Anhänger zu mobilisieren und zu bestärken.
Historiker unterscheiden gern zwischen der leninistischen Phase (1917–1923) sowie den anschließenden Jahren wechselnder rivalisierender «Triumvirate» (1924–1929) einerseits und der terroristischen Willkürherrschaft Stalins andererseits, der sich 1930/31 die uneingeschränkte Kontrolle sicherte. Doch obwohl Stalin überall finstere Verschwörungen witterte und der staatliche Terrorapparat Mitte bis Ende der 1930er Jahre beispiellose Dimensionen annahm, hatte sich das autoritäre, oder genauer: das totalitäre Potential des Staates schon früh manifestiert. Gleichwohl war die Frühphase des Regimes geprägt von der Situation des Bürgerkriegs und der Feindseligkeit Großbritanniens, Frankreichs und der USA. Wohlwollende Betrachter konnten Lenins Regime als eines des «Ausnahmezustands» betrachten, den Carl Schmitt als entscheidendes Souveränitätsmerkmal definiert hatte. Als Lenin, nach einem Schlaganfall schon seit längerem gelähmt, 1924 starb, waren die Truppen der «Weißen» besiegt und die Regierung hatte sich vom ruinösen Wirtschaftskollektivismus abgewandt, der unter den Bedingungen des Bürgerkriegs betrieben worden war, und stattdessen die Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeführt (mit der teilweise Marktbedingungen und Auslandsinvestitionen wieder erlaubt wurden). In den 1920er Jahren waren Moskau und Petrograd für kurze Zeit Heimstatt experimentellen Theaters und futuristischer Kunst. Die Sowjetunion zog westliche Intellektuelle an, und das umso mehr, als die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre die kapitalistische Welt im Würgegriff hielt.
Doch ein derartiges Gleichgewicht, das es der Sowjetunion ähnlich wie Mexiko ermöglicht hätte, die allgemeine Umwälzung unter dem «großen Zelt» eines Einparteienregimes zu stabilisieren, welches die Machtpositionen dauerhaft besetzte, ohne aber einen Polizeistaat zu errichten, stellte sich nicht ein. Dies hatte historische, personenspezifische und gesellschaftliche Gründe. Die von einem gesundheitlich schwer angeschlagenen Lenin hinterlassene Unübersichtlichkeit der Machtverhältnisse hatte zur Folge, dass sich vor allem zwischen Trotzki und Stalin eine giftige Konkurrenz entwickelte. Trotzki war Jude, viel gereist und ein Theoretiker der Revolution. Stalin war bodenständig, ein begabter Machtkämpfer mit intellektuellen Ambitionen, der seine
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