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Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)

Titel: Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Osterhammel , Emily S. Rosenberg , Akira Iriye
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Ärzte, so wurde kolportiert, hätten sich verschworen, um ihn zu vergiften.
    Allein der Tod des Diktators, der angeblich natürliche Ursachen hatte, verhinderte diese drohende Säuberung und mögliche Zwangsumsiedlung. Seine Nachfolger – die vor den jeweils anderen Angst hatten, sich aber doch zusammentaten, um den Leiter des Geheimdienstes zu liquidieren, den sie alle am meisten fürchteten – machten den schlimmsten Exzessen ein Ende, nicht aber dem Parteistaat. Erst Nikita Chruschtschow wagte es 1956 in seiner «Geheimrede» auf dem XX. Parteitag der KPdSU, dem großen Führer paranoide Wahnvorstellungen und einige bedauerliche politische Entscheidungen zu attestieren. Chruschtschow, der selbst wie auch seine überlebenden Genossen an der rücksichtslosen Politik der 1930er Jahre beteiligt gewesen war, hatte zumindest teilweise die Absicht, die Partei, die weiterregieren sollte, zu exkulpieren. Es war jedoch das erste echte Beben in einer ganzen Reihe von Erschütterungen, die im Verlauf der nächsten 35 Jahre allmählich offenbaren sollten, wie brüchig das Regime geworden war.
    Politische Pathologie
    Als westliche Politikbeobachter und Kommentatoren sich mit dem menschlichen Trümmerhaufen konfrontiert sahen, den das deutsche und das sowjetische Regime angerichtet hatten, versuchten sie, diesen Orgien bürgerlicher Zerstörung zumindest intellektuell einen Sinn zu geben. Marxistische Theoretiker und Historiker waren bestrebt, eine klare Unterscheidung zu treffen: Die Regime in Deutschland und Italien seien terroristisch und brutal gewesen und sie hätten die kapitalistische Ordnung im Wesentlichen unangetastet gelassen, während die Russen den Sozialismus verwirklicht hätten, und wenn es dabei zu Exzessen gekommen sei, so sei das allein der Tatsache geschuldet, dass sie die Macht in einem rückständigen Land übernommen hätten. Glaubt man den «Vulgärtheorien», wie sie von der Dritten Internationale (also von den Marxisten, die sich um das Sowjetregime geschart hatten) verbreitet wurden, so war der Faschismus schlicht und einfach die brutalste Strategie des «Monopolkapitals», um an der Macht zu bleiben. Marxistische Dissidenten behaupteten deutlich subtiler, die Faschisten seien politisch autonom: Sie seien als «bonapartistische» Regime entstanden, als die verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie durch Rivalitäten gelähmt gewesen seien.[ 174 ] Gleichwohl galten Faschisten und Nationalsozialisten als «falsche» Revolutionäre, weil sie die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft unverändert beibehalten hätten. Später kamen Untersuchungen zur faschistischen Ökonomie im Krieg zu dem Schluss, in Wirklichkeit habe das Regime die Investitionsmöglichkeiten der Unternehmer kontrolliert und damit deren Entscheidungsfreiheit so sehr eingeschränkt, dass man eher von schwerwiegenden Eingriffen in den Kapitalismus sprechen müsse. In den 1930er und 1940er Jahren versuchten marxistische Kritiker wie Franz Neumann und Herbert Marcuse nachzuweisen, dass es sich beim «Dritten Reich» in Wirklichkeit gar nicht um einen Staat handle – es sei nichts weiter als Ausdruck der stärksten nackten Interessen innerhalb Deutschlands, ob nun Industrie, Parteibosse oder Militär, und möglicherweise bilde sich ein Machtgleichgewicht heraus. Diese Analyse kam nicht nur von Marxisten. Eine Zeitlang waren Franklin D. Roosevelt und der New Deal der gleichen Ansicht: Ende der 1930er Jahre behauptete die US-Regierung, der Faschismus laufe auf uneingeschränkte private Monopolmacht hinaus.[ 175 ] Richtig war, dass die Faschisten die Industrien nur selten verstaatlichen wollten, es sei denn, man musste ihnen aus der Klemme helfen oder eine neue Produktion aufbauen. Die nationalsozialistische Führung pries Industriekapitalismus, Ingenieurkunst und Innovation, während sie sich über das Finanzwesen abfällig äußerte, es galt ihr als ausbeuterisch und häufig von jüdischen Interessen dominiert. Doch das NS-Regime war nicht einfach nur eine Marionette in den Händen von Monopolkapitalisten. Es regierte ohne Zweifel einen Staat.
    Gleichfalls widerspricht es der gängigen Sichtweise, wenn man darauf beharrt, dass ein deutsches Regime, das sogleich Parteien verbot, diktatorische Macht erlangte, der jüdischen Bevölkerung rechtliche Einschränkungen auferlegte, wie man es seit vornapoleonischen Zeiten nicht mehr erlebt hatte, und seine Gegner ohne Gerichtsverfahren in brutalen Einrichtungen internierte oder sie nach einem

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