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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Folglich konnte es ein schlichtes Zurück zu den vorrevolutionären Zuständen nicht geben. Seit 1814/15 war das Verhältnis zwischen der alten und der neuen Ordnung nicht mehr ein Streitpunkt zwischen Frankreich und Europa, sondern zwischen den Kräften der Beharrung und denen der Bewegung in allen Staaten des europäischen Okzidents.
    Für Stein war der Zusammenhang zwischen der Herrschaft Napoleons und der Französischen Revolution geradezu zwingend. Einen noch größeren Zusammenhang aber ließ er unerwähnt: 1815 endete nicht nur das Zeitalter der Französischen Revolution im weiteren Sinn, sondern die Epoche der Atlantischen Revolution, die vier Jahrzehnte zuvor in Nordamerika begonnen hatte (und auch dort erst mit der Selbstbehauptung der Vereinigten Staaten im «Zweiten Unabhängigkeitskrieg» der Jahre 1812 bis 1814 zu Ende ging). Anders als Stein würdigte Leopold von Ranke 1854, vier Jahre nach dem Erscheinen der «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich», die weltgeschichtliche Bedeutung des nordamerikanischen Unabhängigkeitskampfes in seinen Vorlesungen «über die Epochen der neueren Geschichte», die er vor König Max II. von Bayern hielt, mit emphatischen Worten: «Dadurch, daß die Nordamerikaner, abfallend von dem in England gültigen konstitutionellen Prinzip, eine neue Republik schufen, welche auf dem individuellen Rechte jedes einzelnen beruht, trat eine neue Macht in die Welt; denn die Ideen greifen alsdann am schnellsten um sich, wenn sie eine bestimmte, ihnen entsprechende Repräsentation gefunden haben. So kam in diese romanisch-germanische Welt die republikanische Tendenz. Die Monarchie hat das der Verkehrtheit der Minister Georgs III. zu verdanken.»
    Im anschließenden Gespräch mit König Max erläuterte der Historiker seine Ausführungen über den historischen Ort des nordamerikanischen Unabhängigkeitskampfes: «Sie war eine größere Revolution, als früher je eine in der Welt gewesen war; es war eine völlige Umkehr des Prinzips. Früher war es der König von Gottes Gnaden, um den sich alles gruppierte; jetzt tauchte die Idee auf, daß die Gewalt von unten aufsteigen müsse. Darin beruht der Unterschied zwischen den alten Ständen und den jetzigen konstitutionellen Ständen. Jene waren dem Königtum analog, sie beruhen auf einem gewissen Erbrecht; allein die modernen Stände gehen aus der Menge hervor. Diese beiden Prinzipien stehen einander gegenüber wie zwei Welten, und die moderne Welt bewegt sich in nichts anderem als in dem Konflikt zwischen diesen beiden. In Europa war der Gegensatz dieser Prinzipien bisher noch nicht eingetreten; er kam aber zum Ausbruch in der Französischen Revolution.»[ 54 ]
    Damit arbeitete Ranke in bemerkenswerter Klarheit den historischen Zusammenhang zwischen den beiden atlantischen Revolutionen heraus, wobei er der amerikanischen das Erstgeburtsrecht in Sachen des Prinzips zusprach, das die modernen von den überkommenen Verhältnissen unterschied: der Legitimation der Staatsgewalt aus der «Menge» und dem «individuellen Rechte jedes einzelnen» statt aus ererbten Privilegien. Die Französische Revolution wurde dadurch nicht abgewertet, aber doch eingeordnet in einen größeren Prozeß, der vierzehn Jahre vor 1789, mit dem Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges im April 1775, begonnen und in der Folgezeit große Teile der alten wie der neuen Welt erfaßt hatte.
    In den vier Jahrzehnten zwischen 1775 und 1815, der von Reinhart Koselleck so genannten «Sattelzeit», änderten sich die politische Vorstellungswelt und die politische Sprache des Westens so grundlegend wie nie zuvor.[ 55 ] Rankes Hinweis auf den Bedeutungswandel des Begriffs «Stand», von den Geburtsständen zur repräsentativen Volksvertretung, war ein sprechendes Beispiel. Auch beim Begriff «Nation» standen sich ein älteres und ein neueres Verständnis gegenüber: hier eine historisch gewachsene Kultur- und Sprachgemeinschaft, dort eine politische Willensgemeinschaft. ähnlich weit ging der Wandel des Begriffs Demokratie. Er war vor 1789 überwiegend im Sinne unmittelbarer Volks- oder Pöbelherrschaft verwandt worden; das Beispiel der Amerikanischen Revolution zeigte, sehr viel überzeugender als das der Französischen, daß sich Demokratie und repräsentative Herrschaft durchaus vereinbaren ließen. Doch die ältere Deutung von Demokratie wirkte nach: Sie diente nach 1815 der Abwehr aller Bestrebungen, die darauf abzielten, den Staat auf die Souveränität des

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