Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
zu tragen, muß der Staat diejenigen sich unmittelbar allein auf den Handelnden beziehenden Handlungen verbieten oder einschränken, deren Folgen die Rechte anderer kränken, die ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besitz schmälern oder von denen dies wahrscheinlich zu besorgen ist … Denn da der Staat keinen anderen Endzweck als die Sicherheit der Bürger verfolgen darf, so darf er auch keine anderen Handlungen einschränken als (die), welche diesem Endzweck entgegenlaufen.»
Humboldt wollte einen Obrigkeitsstaat in seine Schranken verweisen. Die Freiheit, die er forderte, war die Freiheit des Bürgers von jeder Art von Unterdrückung und Gängelung, nicht die Freiheit eines Volkes, sich selbst eine Regierung zu geben. Verglichen mit dem, was die Briten seit langem und seit ihren Revolutionen auch die Nordamerikaner und die Franzosen an Rechten genossen, waren die «Ideen» von 1791 ein bescheidenes, ein sehr deutsches Programm. Nachdem Frankreich erst unter den Jakobinern, dann unter Napoleon neue Formen des Zwangs kennengelernt hatte, wuchs freilich auch dort ein Verständnis von Freiheit, das dem Humboldts nicht unähnlich war. In Constants Streitschrift «De l’esprit de conquête et l’usurpation» aus dem Jahr 1814 ging es nicht um Demokratie, sondern um die überwindung der Despotie. Unter Despotismus verstand der Autor «eine Regierung, in welcher der Wille des Herrschers alleiniges Gesetz ist». Ein solches Regime war eine Willkürherrschaft, die den Menschen verfolgte in allem, was er zu seinem Glück brauchte. Despotismus bedeutete verordnete Gleichförmigkeit, und in dieser Hinsicht trat Napoleon nur das Erbe von Robespierre an, den Constant ebenfalls einen Despoten nannte: «Es ist bemerkenswert, daß die Gleichförmigkeit nirgends so günstig aufgenommen worden ist wie in einer Revolution, die im Namen der Menschenrechte und der Freiheit erfolgte.»
Der postrevolutionäre Liberalismus, wie Constant ihn vertrat, suchte Schutz vor der Tyrannei in jederlei Form: der des Usurpators und der der Masse. Die Grenzen der Souveränität, schrieb er 1815 in seinen «Principes politiques», seien gezogen durch die Unabhängigkeit und die Existenz des Individuums (l’indépendence et l’existence individuelle). «Rousseau hat diese Wahrheit verkannt, und sein Irrtum hat aus dem ‹Contrat social›, auf den man sich so oft zugunsten der Freiheit beruft, das schrecklichste Hilfsmittel jeder Art von Despotismus gemacht.» Auch die Volkssouveränität sei nicht unbeschränkt, sondern umschrieben durch die Grenzen, die ihr durch die Gerechtigkeit und die Rechte des Individuums gesetzt seien. «Der Wille eines ganzen Volkes kann nicht gerecht machen, was ungerecht ist.» (La volonté de tout un peuple ne peut rendre juste ce qui est injuste.)
Deswegen galt es, einer Konzentration der Macht durch ein ausbalanciertes System von Gewichten und Gegengewichten nach englischem Vorbild vorzubeugen. Da die Charte von 1814 diesem Gedanken Rechnung trug, stellte sich Constant auf ihren Boden. Als er 1815 auf Ersuchen Napoleons einen Entwurf für den Acte additionel anfertigte, hielt er auch dies für einen Dienst an der liberalen Sache. Seit 1815 wirkte er auf ein System hin, in dem die Regierung dem Parlament nicht nur strafrechtlich, sondern auch politisch verantwortlich war und der König nur noch der ausgleichende «pouvoir neutre», der Garant des Gleichgewichts zwischen den Gewalten, sein sollte.
Constant sah nicht wie Montesquieu drei Gewalten, nämlich gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt vor, sondern fünf. Es waren dies zwei Gesetzgebungsorgane, die gewählte Versammlung, die das Prinzip der öffentlichen Meinung (opinion) verkörperte, und die erbliche Versammlung (assemblée héréditaire), die für das Prinzip der Dauer (durée) stand, dann die ausführende Gewalt in den Händen der Minister, die rechtsprechende Gewalt und über allen die königliche Gewalt (pouvoir royal), eine «zugleich höhere und vermittelnde Autorität, nicht darauf aus, das Gleichgewicht zu stören, sondern im Gegenteil es zu bewahren» (autorité à la fois supérieure et intermédiaire, sans intérêt à déranger l’équilibre, mais ayant au contraire tout intérêt a le maintenir).
Eine konstitutionelle Monarchie, die diesen Maximen folgte, wäre von einer parlamentarischen Monarchie wie in England kaum noch zu unterscheiden gewesen. Für preußische Reformer wie Humboldt lag eine
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