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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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hatten, blieb die Charte weit zurück. Doch sie war zugleich liberaler als die Verfassung des Kaiserreichs. Die Rechte der Kammer der Deputierten waren, verglichen mit dem, was die Verfassungen von 1791, 1793 und 1795 in bezug auf die gesetzgebende Gewalt sagten, bescheiden. Dennoch war die zweite Kammer nicht einflußlos. Sie war keine Ständevertretung, sondern eine repräsentative Versammlung, gewählt von denen, die auf Grund ihrer Steuerleistung das Wahlrecht besaßen. Gesetzesvorlagen des Königs erlangten nur mit Zustimmung beider Kammern Gesetzeskraft. Wenn die zweite Kammer nicht zustimmte, konnte daraus ein Verfassungskonflikt erwachsen. Diese Möglichkeit war die Achillesferse des konstitutionellen Systems, für das die Charte von 1814 auf viele Jahrzehnte und weit über Frankreich hinaus die «Urverfassung» blieb.
    Das wiedererstandene Bourbonenkönigtum war noch kein Jahr alt, als es völlig überraschend von einem Gegner herausgefordert wurde, mit dem in Paris und in Wien, wo der Friedenskongreß tagte, nur noch wenige gerechnet hatten: Napoleon. Am 1. März landete der Kaiser, mit rund tausend Offizieren und Soldaten aus Elba kommend, in der Nähe von Cannes. Er ging zu diesem Zeitpunkt noch von der irrigen Meinung aus, daß der Wiener Kongreß seine Arbeit bereits beendet habe. Auf dem Weg nach Paris stieß er auf keinen Widerstand. Unter denen, die ihm zujubelten, waren viele Anhänger der Jakobiner. Was sie forderten, die Abschaffung der Kirche und die Hinrichtung der Bourbonen, lief auf einen Bürgerkrieg hinaus, und den wollte Napoleon unbedingt vermeiden. In Lyon, wo er erfuhr, daß der Kongreß weiter tagte, erließ Napoleon am 13. März 1814 seine ersten Dekrete, darunter eines zur Einberufung der Wahlkollegien aller Departments nach Paris, wo sie die notwendigen Änderungen der Verfassungen des Empire beschließen sollten.
    Napoleon wollte von den Franzosen nunmehr als liberal, reformfreundlich und friedliebend wahrgenommen werden. Er wußte, daß die Bourbonen bei den städtischen Unterschichten und in den meisten Regionen auch bei den Bauern keine Sympathie genossen und die Bourgeoisie noch nicht für sich gewonnen hatten. In der Armee war der Kaiser nach wie vor populär. Das zeigte sich auch, als am 18. März das Korps des Marschalls Ney, anstatt ihn bei Auxerre aufzuhalten, auf seine Seite überwechselte. Als Ludwig XVIII. diese Nachricht erhielt, entschloß er sich, mitsamt seinem Hofstaat die Hauptstadt zu verlassen und sich ins nördliche Frankreich, nach Lille, zu begeben. Infolgedessen konnte Napoleon in Paris, wo er am 20. März eintraf, sofort die Einsetzung einer neuen Regierung in Angriff nehmen. Zu seinem Polizeiminister machte er wieder Fouché, der sich im Jahr zuvor den Bourbonen angeschlossen hatte und jetzt nicht an einen Erfolg des Kaisers zu glauben vermochte.
    Als das größte Problem für Napoleon erwies sich die Haltung der Alliierten. Am 13. März sprachen sie auf dem Wiener Kongreß die Acht über ihn aus. Zwölf Tage später erneuerten sie den Vertrag von Chaumont vom 9. März des Vorjahres, was dasselbe bedeutete wie eine Kriegserklärung. Die Kampfansage verfehlte nicht ihre Wirkung auf die einheimischen Gegner im Bürgertum, bei den gläubigen Katholiken, den Royalisten und den Bauern der Vendée. Um seinen Willen zum Neuanfang zu unterstreichen, übertrug Napoleon die in Lyon versprochene Ergänzung der Verfassung einem seiner schärfsten Kritiker: Benjamin Constant. Der einstige Freund der Madame de Staël, der berühmten Autorin des Buches «De l’Allemagne», hatte 1814 eine Streitschrift gegen Napoleon unter dem Titel «Vom Geist der Eroberung und der Anmaßung der Macht» (De l’esprit de conquête et de l’usurpation) vorgelegt und die Bourbonen publizistisch unterstützt. Jetzt arbeitete er den Entwurf eines «Acte additionel aux Constitutions de l’Empire» aus, der dann freilich nur in abgeschwächter Form nach Billigung durch den Conseil d’état im amtlichen «Moniteur» veröffentlicht wurde.
    Vom Geist der Freiheit war in den Zusatzartikeln nicht viel zu spüren. Die Rechte der Kammern waren größer als in der Zeit vor 1814, gingen aber nicht über die Charte constitutionelle hinaus. Dafür wurden die Rechte der Bürger etwas erweitert. Sie schlossen die Religions-, die Meinungs- und die Pressefreiheit sowie das Petitionsrecht ein. Am 1. Juni 1815 wurde der Acte additionel von den versammelten Wahlkollegien auf dem Marsfeld in Paris

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