Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
geschlagen aus Rußland zurückziehen mußte. Was danach kam, folgte einer Logik, die noch stärker war als sein Wille: dem Geist der Vielfalt, die Europa nicht aufgeben wollte, weil sie zu seinem Wesen gehörte.[ 49 ]
Konservative, Liberale, Sozialisten: Die nachrevolutionäre Ideenwelt
Im Jahre 1850 unternahm ein deutscher Hegelianer, der Staatswissenschaftler Lorenz von Stein, einen bemerkenswerten Versuch, die Entwicklung Europas von der Französischen Revolution bis zum Ausgang der napoleonischen Epoche in knappster Form zusammenzufassen. Im ersten Band seiner dreibändigen «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich» teilte Stein die Zeit zwischen 1789 und 1814 in zwei Phasen ein. In der ersten Phase, die er mit dem französisch-englischen Frieden von Amiens im Jahre 1802, also dem Ende des Zweiten Koalitionskrieges, ausklingen läßt, war es Europa um das «reine Ausstoßen» des revolutionären Fremdkörpers gegangen. «Mit dem Auftreten Napoleons ist nun die erste Epoche dieses Kampfes zu Ende. Die französische Bewegung hat gegen den Angriff des übrigen Organismus gesiegt; das neue Frankreich ist eine anerkannte Macht geworden … Jener Zustand der Dinge, wie der Friede von Amiens ihn aufgestellt (hatte), erkannte ein feudales Europa und ein staatsbürgerliches Frankreich, einen Teil, der wesentlich verschieden von seinem Ganzen war, mithin einen absoluten Widerspruch als Grundlage eines europäischen Friedens an … Der Kriegszustand war also auch mit jenem Frieden nicht aufgehoben, die rechte Frage nicht gelöst; der Kampf mußte wieder beginnen, aber jetzt hatte er einen neuen Charakter; Frankreich begann, statt daß es (wie) bisher rein abwartend aufgetreten (wäre), jetzt positiv in den Staatenorganismus einzugreifen; bisher das bewegende Element, ward es jetzt das konstituierende für die Staaten Europas.»[ 50 ]
In der zweiten Phase, die Stein von 1802 bis 1814 datiert, strebte das napoleonische Frankreich danach, «eine Gleichartigkeit der politischen und sozialen Existenz mit sich in den übrigen Teilen» Europas zu erreichen, und zwar durch Brückenschläge in die Vergangenheit wie die Errichtung des Kaiserreiches und die Einführung eines kaiserlichen Adels. Auf der anderen Seite mußte sich das alte Europa Elementen der neuen Gesellschaft öffnen, um über Napoleon siegen zu können. Die Proklamation von Kalisch vom 28. Februar 1813, in der der russische Feldmarschall Kutusov den Deutschen eine Art Nationalverfassung in Aussicht stellte, und mehr noch die Charte constitutionelle vom Juni 1814 waren Ausdruck des Bemühens um eine Synthese zwischen den feudalen und den staatsbürgerlichen Kräften.[ 51 ]
Die Charte machte aus der volkswirtschaftlichen Gesellschaft, wie sie unter Napoleon, und eigentlich gegen seinen Willen, entstanden war, eine staatsbürgerliche. «Die Restauration Ludwigs XVIII. war der Friede mit Europa, die Charte der Friede mit dem französischen Volk … Die Charte … war die förmliche Anerkennung, daß Europa selber den Boden der feudalen Gesellschaft verlassen habe und im Begriff stehe, in die Epoche der staatsbürgerlichen hineinzutreten. Was bisher durch die Gewalt der französischen Waffen bestanden hatte, das ward jetzt durch die Diplomatie Europas freiwillig und als ein Natürliches aufgestellt; die Charte Ludwigs XVIII. ist der Beginn der konstitutionellen Epoche in Europa.»[ 52 ]
Äußerlich war mit der Charte wieder eine gewisse Gleichartigkeit der sozialen und politischen Verhältnisse in Europa erreicht. Aber außerhalb Frankreichs war die feudale Gesellschaft nicht vernichtet, sondern nur untergraben, und auch in Frankreich war das Ringen zwischen der ständischen und der staatsbürgerlichen Ordnung noch längst nicht beendet. Deswegen ging der «Kampf beider Systeme um die Herrschaft und damit um ihre gegenseitige Existenz» auch nach 1814 weiter. Er trat mit der Charte lediglich in eine neue, seine dritte Phase ein, die Stein mit der Julirevolution von 1830 enden läßt.[ 53 ]
In seinem Hang, den Gang der Geschichte auf große allgemeine Gesetze zurückzuführen, hat Stein manche der von ihm hervorgehobenen Ereignisse überzeichnet: Die europäische Bedeutung von Napoleons «noblesse impériale» war geringer, als er annahm, und die Proklamation von Kalisch blieb ein Stück Papier. Gleichwohl hatte Stein klar erkannt, daß der Sieg der verbündeten Mächte über Napoleon nicht ohne Zugeständnisse an die Ideen von 1789 möglich gewesen wäre.
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