Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
beschlossen. Das öffentliche Echo war widersprüchlich und für Napoleon enttäuschend: Den Liberalen war das, was die Zusätze an individueller Freiheit boten, zu wenig; den Bonapartisten ging es viel zu weit; die Anhänger der Jakobiner beklagten den Mangel an Demokratie. Ein Referendum erbrachte über 1,5 Millionen Ja-Stimmen und 5000 Nein-Stimmen. Bemerkenswert war die ungewöhnlich niedrige Beteiligung der stimmberechtigten Franzosen.
Mitte Juni waren die Alliierten so weit, daß sie die militärische Antwort auf die Herausforderung durch Napoleon geben konnten. Sie suchten die Entscheidung in Belgien. Am 18. Juni traten bei Waterloo zunächst die Briten unter Wellington, dann die Preußen unter Blücher gegen die Truppen des Kaisers an. Als die Garde zurückzuweichen begann, gab es am Ausgang der Schlacht und des letzten der napoleonischen Kriege nichts mehr zu deuteln. Am Morgen des 21. Juni traf Napoleon wieder in Paris ein. Am 22. Juni verließ er die Hauptstadt und begab sich nach Malmaison, dem Schloß der 1814 verstorbenen Joséphine. Am 3. Juli vollzog Fouché als faktischer Regierungschef die Kapitulation von Paris.
Vier Tage später zogen die Verbündeten zum zweiten Mal in Paris ein; Ludwig XVIII. folgte ihnen am 8. Juli. Napoleon begab sich am 15. Juli in Rochefort an Bord eines britischen Schiffes. Ende Juli wurde es nach England beordert. Am 5. August begann die letzte Reise des ehemaligen Kaisers. Ihr Ziel war die Insel St. Helena im Südatlantik. Dort widmete sich Napoleon in den Jahren, die ihm noch verblieben, der Arbeit an dem, was ihn überleben sollte: dem eigenen Mythos. Am 5. Mai 1821 starb Napoleon im Alter von 51 Jahren – dem offiziellen Protokoll zufolge – an Magenkrebs.
Frankreich bezahlte das Abenteuer der «Hundert Tage» im November 1815 mit dem zweiten Pariser Frieden, der um einiges härter war als der erste vom Mai 1814. Saarbrücken und Saarlouis fielen an Preußen, Landau zuerst an Österreich, dann an Bayern, der bei Frankreich verbliebene Teil Savoyens an das Königreich Sardinien. Im nordöstlichen Teil Frankreichs gab es noch fünf Jahre lang alliierte Besatzungstruppen, wobei das besiegte Land für die Kosten aufzukommen hatte. Außerdem mußte Frankreich eine Kriegsentschädigung von 700 Millionen Francs zahlen und geraubte Kunstschätze den Ländern zurückgeben, aus denen sie in der Zeit des Empire nach Paris gebracht worden waren.
Im letzten Kapitel der napoleonischen Herrschaft zeigte sich noch einmal die ungeheure Willenskraft des Mannes, der 16 Jahre lang ganz Europa in seinen Bann geschlagen hatte. Nach Luther hatte kein einzelner mehr so viele Veränderungen bewirkt wie er. Er hatte die Revolution in Frankreich beendet und gleichzeitig einige ihrer Errungenschaften in Europa verbreitet. Er war ein Produkt der Revolution und ein Unterdrücker der Freiheit, die sie verheißen hatte. Er rief zuerst Bewunderung für sich und sein Land hervor und zog danach abgrundtiefen Haß auf sein Land und sich selbst. Der Nationalismus des napoleonischen Frankreich wirkte ansteckend. Doch wo immer sich andere Völker vom Grand Empire bedrängt und gedemütigt fühlten, vermengten sich ihre patriotischen Empfindungen mit Franzosenfeindschaft. Der nachahmende Nationalismus half bei der Abschüttelung der Fremdherrschaft, aber er überdauerte sie und prägte das Jahrhundert, das auf Napoleon folgte, noch stärker, als es das reformerische Erbe des Korsen, der Code Civil, tat.
Der Glaube an die Kraft des eigenen Willens war beides: die tiefere Ursache der Triumphe Napoleons und die seines Scheiterns. Nichts lag ihm weniger als die abwägende Prüfung von Hindernissen, die seinen weitgesteckten Plänen entgegenstanden. Eine solche Prüfung hätte ihn davon abgehalten, 1809 den Krieg in Spanien vom Zaun zu brechen, 1812 zum Feldzug gegen Rußland aufzubrechen und 1815 von Elba nach Frankreich zurückzukehren. Und doch waren alle diese Unternehmungen in sich logisch: Napoleon konnte, solange er nicht endgültig geschlagen war, nicht aufhören, um die Steigerung seiner Macht zu kämpfen.
Das war das Gesetz, nach dem er am 18. Brumaire angetreten war, dem sich Europa aber nicht dauerhaft beugen konnte. Da es nicht vom Willen eines Einzelnen abhängen wollte, bereitete es sich auf den Augenblick vor, an dem es sich mit vereinten Kräften gegen den Anspruch des Kaisers auf Universalherrschaft auflehnen konnte. Napoleon führte diesen Augenblick herbei, als er sich Ende 1812
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