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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Arbeiter die Öffentlichkeit auf ihre Not aufmerksam machen wollten, mußten sie gemeinsam und solidarisch handeln.[ 82 ]
    Das Nachdenken über die soziale Frage hatte schon lange vor den «hungry fourties» begonnen. Nach 1840 aber vertiefte sich die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen so sehr, daß das Bewußtsein der Krise weite Teile der Gesellschaft erfaßte und die Kritik an den bestehenden Verhältnissen radikaler wurde. In Deutschland war das einflußreichste Sprachrohr der Kritik eine von Arnold Ruge, einem Linkshegelianer, 1838 gegründete Zeitschrift, die «Hallischen Jahrbücher». In eben jenem Jahr 1838 hatte Ruge noch das «protestantische» oder das «Reformationsprinzip» zum «Prinzip Preußens» erklärt, das eine Revolution überflüssig, ja unmöglich mache. Drei Jahre später aber sah sich Ruge genötigt, vor der preußischen Zensur ins Königreich Sachsen auszuweichen, wo er seine Zeitschrift unter dem Titel «Deutsche Jahrbücher» fortführte. Sein Aufsatz «Selbstkritik des Liberalismus», in dem er Anfang 1843 die «Auflösung des Liberalismus in Demokratismus» forderte, war aber auch der sächsischen Regierung zu viel: Sie verbot die Zeitschrift. Ruge verließ Deutschland und begab sich nach Paris, wo vor ihm schon so viele deutsche und andere Demokraten und Radikale Zuflucht gefunden hatten.
    Im gleichen Jahr und aus einem ähnlichen Grund tat auch ein anderer, noch radikalerer Junghegelianer denselben Schritt: Karl Marx, 1818 in Trier als Sohn eines vom Judentum zum Protestantismus übergetretenen Rechtsanwalts geboren, Doktor der Philosophie und 1842/43 zeitweilig Redakteur der radikalliberalen «Rheinischen Zeitung», die im Frühjahr 1843 von der preußischen Regierung verboten wurde. In Paris, wo er seit November 1843 lebte, gab Marx zusammen mit Arnold Ruge, mit dem er sich aber wenig später zerstritt, die «Deutschfranzösischen Jahrbücher» heraus. Im einzigen Doppelheft dieser Zeitschrift, das je erschien, brach Marx im Februar 1844 öffentlich mit der Philosophie Hegels. Der Aufsatz «Kritik der Hegelschen Philosophie. Einleitung» war aber sehr viel mehr als nur eine Abrechnung mit dem Vollender des deutschen Idealismus. Marx kündigte in diesem Text die radikalste aller Revolutionen an: die proletarische Revolution, die nur eine deutsche Revolution sein konnte.
    Es war der «Anachronismus» der deutschen Verhältnisse, der Marx zu dieser kühnen Vorhersage und zu einem ebenso gewagten Vergleich veranlaßte: dem mit der Situation Frankreichs am Vorabend der Revolution von 1789. «Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach französischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der Gegenwart.» Die deutsche Rückständigkeit war Marx zufolge so radikal, daß sie nur durch eine radikale Revolution überwunden werden konnte. «Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.» Die Rolle der Philosophie war durch die deutsche Geschichte vorgegeben. «Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. So wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.» Der Philosoph, der Luthers Platz einnehmen und zugleich Luther überwinden wollte, hatte einen Namen: Karl Marx.
    Die Geschichts- und Zukunftsdeutung, die Marx um die Jahreswende 1843/44 entwarf, liest sich wie eine moderne Abwandlung der mittelalterlichen Lehre von der «translatio imperii»: ihre Metamorphose zur «translatio revolutionis». So wie nach der christlichen Lesart das römische Kaisertum im Jahre 800 von den Griechen auf die Franken oder Deutschen, also in ost-westlicher Richtung, übertragen worden war, so wanderte jetzt die Revolution von West nach Ost, von den Franzosen zu den Deutschen, wobei sich der Charakter der Revolution änderte. Die Franzosen hatten 1789 die klassische bürgerliche Revolution hervorgebracht. Wenn der «gallische Hahn» erneut schmetterte, mußte er, da sich die Gesellschaft inzwischen weiterentwickelt hatte, eine andere Revolution ankündigen: die proletarische. Sie würde in Frankreich ihren Ausgang nehmen; für die Entscheidungsschlacht aber kam nur ein Land in Frage: Deutschland. Hier konnte, weil die Verhältnisse so rückständig waren, die «bürgerliche

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