Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Vater, als tolerant und reformfreundlich. Für eine solche Einschätzung schien manches zu sprechen. Bald nach seiner Thronbesteigung machte der König Ernst Moritz Arndt, der nach den Karlsbader Beschlüssen seinen Lehrstuhl verloren hatte, wieder zum Professor an der Universität Bonn. Sodann rehabilitierte er ein anderes Opfer der Demagogenverfolgung, den Turnvater Jahn. Mindestens ebensoviel Aufsehen erregte die Tatsache, daß Friedrich Wilhelm drei der «Göttinger Sieben» – jener Professoren, die 1837 aus ihren Lehrämtern entfernt worden waren, nachdem sie öffentlich gegen die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes von 1833 durch den neuen König von Hannover, Ernst August, protestiert hatten – an die Akademie der Wissenschaften in Berlin berief: Es waren der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die berühmten Sammler und Herausgeber deutscher Volksmärchen.
Die überhöhten Erwartungen der Zeitgenossen wurden jedoch schon bald enttäuscht. Friedrich Wilhelm IV. dachte gar nicht daran, seinem Volk eine geschriebene Verfassung zu gewähren, geschweige denn eine so liberale wie die belgische von 1831. Sein Freiheitsbegriff war kein konstitutioneller, sondern ein altständischer. Deswegen erteilte er Forderungen nach einer Repräsentativverfassung, wie sie vor allem in Ostpreußen laut geworden waren, eine klare Absage. «Ich fühle mich ganz von Gottes Gnaden und werde mich so mit seiner Hilfe bis zum Ende fühlen», schrieb er am 26. Dezember 1840 an den Oberpräsidenten von Ost- und Westpreußen, den überzeugten Liberalen Theodor von Schön. «Glanz und List überlasse ich ohne Neid sogenannten konstitutionellen Fürsten, die durch ein Stück Papier dem Volk gegenüber eine Fiktion, ein abstrakter Begriff geworden sind. Ein väterliches Regiment ist deutscher Fürsten Art …»[ 80 ]
Orient und Rhein: Die Doppelkrise von 1840
Der Thronwechsel in Preußen war das eine Ereignis, das dem Jahr 1840 zu einem festen Platz in den deutschen Geschichtsbüchern verholfen hat. Das andere war die Rheinkrise. Diese hatte ihren Ursprung im Nahen Osten und eine Vorgeschichte, die bis ins Jahr 1830 zurückreichte. Damals hatte Frankreich mit der Eroberung von Algerien begonnen, woraus sich ein langer, blutiger Kolonialkrieg entwickelte. Die neugewonnene, aber noch längst nicht gesicherte Bastion in Nordafrika machte Paris geneigt, nach einem Verbündeten Ausschau zu halten, der der französischen Expansion im Maghreb förderlich sein konnte. Es fand ihn in Mehmet Ali, dem Vizekönig von Ägypten, der seit langem danach strebte, den Zustand der Halbsouveränität hinter sich zu lassen und dem von ihm beherrschten Land die vollständige Unabhängigkeit zu verschaffen – wenn es ihm nicht letztlich noch um sehr viel mehr ging: das Ziel, das Erbe des Sultans in Konstantinopel anzutreten.
Während Frankreich Mehmet Ali politische Rückendeckung gab, wollten die anderen Großmächte eine weitere nachhaltige Schwächung des Osmanischen Reiches nicht hinnehmen. Das galt vor allem für die Flügelmächte: Rußland hatte sich 1833, vier Jahre nach der türkischen Niederlage im griechischen Unabhängigkeitskrieg, durch den auf acht Jahre befristeten Beistandspakt von Hunkjar Skelessi eine Art Protektorat über die Türkei gesichert, wozu auch die Sperrung der Dardanellen für fremde Kriegsschiffe gehörte; England sah durch Mehmet Alis aggressive Politik seine Stellung im östlichen Mittelmeerraum und seine Verbindungslinien nach Indien gefährdet. Im Frühjahr 1839 versuchte die Türkei, Syrien, wo sich Mehmet Ali sechs Jahre zuvor nach einem siegreichen Feldzug gegen die Hohe Pforte die persönliche Statthalterschaft gesichert hatte, zurückzuerobern, wurde aber von Ibrahim, dem Sohn des Vizekönigs, vernichtend geschlagen; die Flotte des Sultans lief zu Mehmet Ali über.
Um den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu verhindern und so das Gleichgewicht der Mächte zu bewahren, setzte der britische Außenminister Lord Palmerston nunmehr auf eine enge Zusammenarbeit mit Rußland, dem traditionellen Rivalen Großbritanniens, sowie den beiden mitteleuropäischen Großmächten Österreich und Preußen. Das Ergebnis der diplomatischen Bemühungen war der Londoner Vertrag über die Befriedung der Levante vom Juli 1840. Darin erklärten die vier Mächte die Erhaltung des Osmanischen Reiches zu ihrer höchsten Aufgabe. Mehmet Ali sollten lediglich die erbliche Herrschaft über Ägypten und
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