Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
zumindest Großbritannien und Frankreich während des gesamten Revolutionsjahres getan hatten.
Zu keiner Zeit gab es 1848/49 seitens der «liberalen» Westmächte Versuche, Freiheitsbewegungen in anderen Ländern zu unterstützen. Ebensowenig standen Interventionen gegen nationale Einigungsbestrebungen in Deutschland und Italien auf der Tagesordnung. Aktiv wurden die westlichen Großmächte nur, als beim deutsch-dänischen Krieg um Schleswig ihre Rechte und Pflichten als Signatarmächte der Schlußakte des Wiener Kongresses von 1815 und ihre strategischen Interessen in Nord- und Ostsee berührt wurden. Als der französische Außenminister Lamartine am 4. März 1848 in einem Manifest die Feststellung traf, die Verträge mit dem besiegten Frankreich von 1815 gälten nur noch als Tatsachen, über deren Abänderung man sich verständigen müsse, wurde das zwar in den Hauptstädten der anderen Großmächte als Provokation empfunden. Aber so revolutionsfeindlich der britische Außenminister Lord Palmerston auch war, so lehnte er es doch strikt ab, dem Drängen der Ostmächte nachzugeben und gegen das revolutionäre Frankreich vorzugehen.
Tatsächlich unterschied sich die Außenpolitik der zweiten französischen Republik kaum von der des gestürzten Julikönigtums. Auch in Wien und Berlin wirkte sich die Revolution auf die internationalen Beziehungen beider Staaten nur schwach aus. Keine der europäischen Großmächte betrieb 1848 eine revolutionäre Außenpolitik. Die Vormacht der Gegenrevolution, Rußland, zeigte sich erst nach dem Sieg der Gegenrevolution in Österreich und Preußen ernsthaft bereit, in Mitteleuropa zu intervenieren. Auf den ersten Blick sah es mithin so aus, als habe sich das internationale System durch die Revolution nicht grundlegend verändert. Einen Bruch zwischen den fünf Großmächten hatte es 1848/49 in der Tat nicht gegeben. Gleichwohl markiert die Revolutionszeit das Ende ideologischer Lagerbildung. Frankreich war unter Louis-Napoleon sehr viel weniger «liberal» als das England Lord Palmerstons; das konstitutionelle Preußen war bei weitem nicht so «konservativ» wie das Österreich Schwarzenbergs, von Rußland unter Nikolaus I. ganz zu schweigen. Die «Pentarchie» der frühen Restaurationszeit gehörte ebenso der Vergangenheit an wie der anschließende Gegensatz einer westlichen und einer östlichen Mächtegruppe. Auch wenn es den Begriff «Realpolitik» noch nicht gab: Er bezeichnet auf angemessene Weise den Geist, in dem die großen Mächte 1848 und danach auf der internationalen Bühne agierten.
Die Staatenlenker standen damit nicht allein. Auch die meisten nationalen Bewegungen trennten sich 1848 von dem, was ihnen im Rückblick als zu idealistisch und romantisch erschien. Der vormärzliche Traum vom «Völkerfrühling» war ausgeträumt. Als Italien und Deutschland sich anschickten, Nationalstaaten zu werden, wurde der einstige liberale Internationalismus rasch durch das Pochen auf vermeintliche nationale Interessen ersetzt: Ob Mazzini die Brennergrenze für Italien oder die Paulskirche Triest für Deutschland beanspruchten, von einer Solidarität der freien Völker war im Revolutionsjahr nur noch wenig zu spüren. Die radikale Linke wich hiervon ab, soweit es um die Zusammenarbeit «revolutionärer» Völker ging. Die Kehrseite dieser Solidarität war die Propagierung eines rücksichtslosen Kampfes gegen Völker, die als «konterrevolutionär» eingestuft wurden. «Internationalistisch» verhielten sich letztlich nur die Polen, die ihrerseits internationale Hilfe brauchten, um ihr nationales Anliegen, die überwindung der Teilung, zu verwirklichen. 1848/49 gelangten sie dabei so wenig ans Ziel wie 1830/31 und 1846. Die polnische Frage blieb ebenso ungelöst wie die irische. Diese war freilich nur ein innerbritisches Problem, jene eines der «großen Politik».
Als Ergebnis der Revolution von 1848/49 gab es in Europa drei neue Verfassungsstaaten, nämlich Sardinien-Piemont, Preußen und Dänemark, aber keine neuen Nationalstaaten. In Ostmitteleuropa war, wenn man vom Sonderfall Polen absieht, die Idee des Nationalstaates vor allem an dem starken Rückhalt gescheitert, den das habsburgische Vielvölkerreich noch immer bei seinen slawischen Völkern besaß. Der Faktor Österreich erklärt zu einem guten Teil auch den Fehlschlag des deutschen wie des italienischen Versuchs, einen Nationalstaat zu gründen. Anwärter auf eine neue nationale Führungsrolle gab es in beiden Fällen: Es
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