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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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eroberte Macht nur festhalten konnte, indem es die Klassengegner systematisch unterdrückte. Er gab seine eigene Auffassung wieder, wenn er die Position des «revolutionären Sozialismus» mit den Worten umriß: «Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen Beziehungen hervorgehen.»
    Auf das historische Vorbild der jakobinischen «terreur» von 1793, das ihm stets präsent war, verwies Marx an dieser Stelle nicht. Damals mußte, wie er 1847 schrieb, «die Schreckensherrschaft … nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege.»
    Anfang November 1848, nach dem Sieg der Gegenrevolution in Wien, gab Marx in der «Neuen Rheinischen Zeitung» seiner Hoffnung Ausdruck, der «Kannibalismus der Konterrevolution» werde die Völker überzeugen, daß es nur ein Mittel gebe, «die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen , zu vereinfachen, zu konzentrieren , nämlich den ‹ revolutionären Terrorismus ›». Die «Diktatur des Proletariats» als proletarische Schreckensherrschaft war kein beiläufiges Moment der Konsequenzen, die Marx aus den Revolutionen von 1848 zog. Am 5. März 1852 rechnete er in einem Brief an seinen Freund Joseph Weydemeyer die Erkenntnis, «daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt», sogar zum Kernbestand seiner Theorie.
    Liberale Zeitgenossen von Marx fanden den Rückschluß von der «bürgerlichen» und «proletarischen» Revolution alles andere als überzeugend. In seinen «Grundsätzen der Realpolitik» machte August Ludwig von Rochau 1853 auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem «dritten» und dem «vierten Stand» aufmerksam. «Es ist eine nichtssagende Redensart», schrieb er, «wenn man von einem vierten Stand spricht, der den Mittelstand ablösen werde, wie der Mittelstand vormals in die Stelle der Aristokratie eingerückt sei. Zwischen diesem geschichtlichen Vorgang und jener Weissagung fehlt jeder innere Zusammenhang. Der Mittelstand hat dem Adel das Heft aus der Hand gewunden, nicht weil er zahlreicher war – der Zahl nach war ja der mißhandelte Bauer noch weit stärker, ohne sich gleichwohl helfen zu können –, sondern weil er es ihm an geistiger und sittlicher Bildung und an Wohlstand zuvortat. Diese Eigenschaften waren es, welche ihm den Anspruch auf die größere politische Geltung gaben und ihn instand setzen, sich dieselbe zu verschaffen. Der sogenannte vierte Stand dagegen wird gerade durch den Mangel jener Eigenschaften vorzugsweise charakterisiert, und wie lebhaft auch die Teilnahme sei, welche Unwissenheit, Roheit und Armut verdienen, so kann doch nur der bare Unverstand ihnen den Beruf zur herrschenden politischen Rolle zuerkennen. Entkleidet man den sogenannten vierten Stand jener negativen Eigenschaften, macht man ihn unterrichtet, so verschmilzt man ihn mit dem bisherigen Mittelstand, der alsdann möglicherweise nur noch einen Gegensatz von oben her haben kann.»
    Die soziale Frage war folglich nach Rochaus Überzeugung nicht, wie Marx behauptete, durch eine proletarische Revolution und die anschließende Diktatur des Proletariats zu lösen, sondern nur durch eine Politik der sozialen Reform. Als deren Träger hatte sich kurz zuvor, 1850, im dritten Band seiner «Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich» der konservative Staatswissenschaftler Lorenz von Stein nur ein «Königtum der sozialen Reform», also einen auf dem monarchischen Prinzip beruhenden Staat, vorstellen können, der stark genug war, um «selbsttätig, gegen den Willen und die natürliche Tendenz der herrschenden Klasse, für die Hebung der niederen, bisher gesellschaftlich und staatlich unterworfenen Klasse auf(zu)treten und die ihm anvertraute höchste Staatsgewalt in diesem Sinne (zu) gebrauchen».
    Für den liberalen Rochau konnte dies nicht die Alternative zur sozialen Revolution sein. Vielmehr ging es ihm ausschließlich um Hilfe zur Selbsthilfe, wozu auch

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